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Nein, die USA verbrauchen nicht die Hälfte aller Medikamente auf der Welt

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Author(s): Till EICHENAUER / AFP Deutschland

Der Verbrauch von Medizin ist von Land zu Land unterschiedlich. In einem Video im Netz behauptet ein Arzt, in den USA würden die Hälfte aller weltweit hergestellten Medikamente eingenommen. Das stimmt nicht. Laut Forschungsinstituten liegt der Medikamentenverbrauch in den USA zwar über dem weltweiten Durchschnitt, beträgt aber nicht die Hälfte aller Medikamente.

In einem Video sagt der Arzt Ingfried Hobert: “Wir wissen heute, dass die Amerikaner fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, aber diese fünf Prozent verbrauchen 50 Prozent aller auf diesem Planeten produzierten Medikamente.”

Das Video wurde tausendfach auf Instagram und Tiktok gelikt und geteilt.

Screenshot der Behauptung auf Instagram vom 31. Juli 2023.

Bei dem kurzen Clip handelt es sich um einen Ausschnitt aus einem längeren Interview auf dem Youtube-Kanal der Website Welt der Gesundheit TV, vom 9. Februar 2023. Eine Moderatorin spricht mit dem Arzt Ingfried Hobert. Thema ist die richtige Ernährung bei einem Reizdarmsyndrom. In dem Video geht es immer wieder um den seiner Meinung nach exzessiven Einsatz von Medikamenten: “Man gibt heute chemische Medizin, wie Drops, als ob es kein Morgen geben würde”, sagt Ingfried Hobert.

Medikamentenverbrauch weltweit

Laut aktuellen Zahlen des Volkszählungsamts der USA beträgt der Anteil der Menschen in den USA an der Weltbevölkerung 4,2 Prozent.

Um eine einheitliche Messeinheit für Medikamentenverbrauch zu schaffen, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Defined Daily Dose (DDD), also eine durchschnittliche Tagesdosis eines Medikaments bei Erwachsenen, festgelegt. Damit lässt sich der Medikamentenverbrauch unabhängig etwa von regionalen Preisen vergleichen.

Christoph Ertl, vom Institut Gesundheit Österreich GmbH, dem nationalen Forschungs- und Planungsinstitut für das Gesundheitswesen, schrieb in einer Mail an AFP am 28. Juli 2023: “Ein Vergleich nach Gesamtgewicht ist bei Humanarzneimitteln nicht üblich und findet eher im veterinärmedizinischen Bereich Einsatz.” Er verwies jedoch auf einen Bericht des privaten US-Instituts IQVIA, das sich auf Forschung im Gesundheitswesen spezialisiert hat. Im Papier Global Use of Medicines 2023 (Link hier archiviert) wurden dort die weltweit konsumierten Tagesdosen aller Medikamente für das Jahr 2022 zusammengetragen. Auch Reinhard Strametz, Professor für Medizin, Ökonomie und Patientensicherheit an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden, verweist auf Nachfrage auf die Zahlen des Institutes IQVIA.

Laut dem Bericht kam Nordamerika (hier die USA und Kanada) im Jahr 2022 auf rund 253 Milliarden täglichen Dosen. China kommt auf 318 Milliarden täglichen Dosen, Westeuropa auf 403 Milliarden und Indien auf 443 Milliarden. Weltweit soll laut dem Institut im selben Jahr rund 3200 Milliarden Dosen verbraucht worden sein.

Damit verbrauchen die USA und Kanada rund ein Zwölftel, beziehungsweise etwa acht Prozent der weltweit verfügbaren Tagesdosen an Medikamenten. Laut dem Bericht liegt der Pro-Kopf-Verbrauch von Medikamenten sowohl in Japan, Westeuropa und Osteuropa deutlich über dem Nordamerikas. Vermögendere Länder haben zwar einen höheren Medikamentenverbrauch. Dass dieser in den USA vergleichsweise niedrig ist, könnte an hohen Kosten für Patienten aus eigener Tasche liegen, vermuten die Studienautoren.

Eine Studie aus dem Jahr 2023 aus dem “Bulletin of the World Health Organization” zeigt zudem, dass übermäßiger Gebrauch von Arzneimittel nicht nur in wohlhabenden Industrieländern vorkommt. Die Studie zeigt, dass es in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen eine übermäßige Nutzung besonders von Antibiotika, Psychopharmaka und Herzmedikamenten kommt.

Auch Roland Seifert, Direktor des Instituts für Pharmakologie, Zentrum Pharmakologie und Toxikologie an der Medizinischen Hochschule Hannover, sieht die Aussagen im geteilten Video kritisch: “Dieses Video ist kompletter Unsinn. Da stimmt nichts”, schrieb er am 24. Juli 2023 in einer Mail an AFP.

US-Markt für Pharmazeutika ist größter der Welt

Aus Zahlen (Link hier archiviert) aus dem Jahr 2020 des Forschungsinstituts IQVIA geht aber auch hervor, dass die USA im Ländervergleich den mit Abstand größten Anteil am globalen Markt für pharmazeutische Produkte haben. So wird das gesamte Volumen an verkauften Medikamenten in den USA auf 533,5 Milliarden US-Dollar geschätzt. Damit hat das Land mit ein ähnlich großen Markt wie die übrigen neun größten nationalen Märkte zusammen.

Laut einem Bericht (Link hier archiviert) aus dem Jahr 2021 des Europäischer Verbands der pharmazeutischen Industrie und Verbände (EFPIA) entfallen auf Nordamerika (USA und Kanada) “49 Prozent des der weltweiten Pharmaverkäufe, verglichen mit 23,9 für Europa.”

Dies liege, laut Christoph Ertl, an den hohen Pro-Kopf-Ausgaben für Medikamente in den USA. “Die höheren Arzneimittelausgaben in den USA werden großteils auf die Preiskomponente, also höhere Arzneimittelpreise aufgrund fehlender Preisregulierung, zurückgeführt.”

Die Pro-Kopf-Ausgaben für Arzneimittel sind unter allen OECD-Mitgliedern in den USA am höchsten. Laut einer Statistik (Link hier archiviert) der Organisation lag diese zuletzt bei 1432 Dollar pro Person und Jahr. Deutschland liegt mit 1042 Dollar auf Platz zwei.

Eine Studie, aus dem “Blood Cancer Journal”, veröffentlicht im Jahr 2020, zählt die monopolistische Stellung einiger großer Pharmaunternehmen in den USA, zu den Hauptursachen für die hohen Preise für Medikamente in den USA. Eine Regulierung durch die Politik werde durch starke Einflussnahme der Industrie verhindert: “Pharmaunternehmen und ihre Handelsorganisationen gaben 2018 in den Vereinigten Staaten rund 220 Milliarden US-Dollar für Lobbyarbeit aus”, heißt es in der Studie. Eine Studie des US-amerikanischen Think-Tanks RAND Corporation, veröffentlicht 2021, kommt zu dem Schluss, dass Medikamente in den USA um 256 Prozent teurer waren, als im Durchschnitt aller anderen 32 Mitgliedsländer der OECD.

Reinhard Strametz, Professor für Medizin, Ökonomie und Patientensicherheit an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden, hierzu: “Teuer sind in der Regel neue Arzneimittel und Onkologika in der Krebstherapien”, so der Wissenschaftler in einer E-Mail an AFP vom 24. Juli 2023. Dies belegen auch die Zahlen der EFPIA. So wurden zwischen 2015 und 2020 63,7 Prozent der in diesem Zeitraum neu entwickelten und zugelassenen Medikamente allein in den USA verschrieben.

Zahlen aus einem Buch über Entzündungen

Auf Nachfrage von AFP antwortet Ingfried Hober am 26. Juli 2023 per E-Mail, er habe die Zahlen aus dem Buch “Out of the Fire” von Paul R. Clayton aus dem Jahr 2013. In dem Buch geht es um chronische Entzündungen. Auf einer von Ingfried Hober an AFP gesendete Seite steht, die US-Bürger durch ihre Neigung zum Fastfood gesundheitliche Probleme. Und weiter: “Das erklärt, warum Amerikaner, die nur fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, etwa 50 Prozent der Weltproduktion an Pharmazeutika und 80 Prozent der gesamten verschriebenen Schmerzmittel schlucken.”

Als Quelle ist dort eine Unterseite der Website der US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention angegeben. Der Link ist derzeit nicht zu erreichen. Jedoch können immer noch die archivierten Versionen der Seite aus von 2011 und 2012, aus den Jahren vor Erscheinen von Claytons Buch abgerufen werden. Dort finden sich zwar Belege für andere Aussagen auf der fraglichen Buchseite. Zur Behauptung, die USA verbrauchten die Hälfte aller Medikamente weltweit, steht dort nichts.

Als weitere Quelle wird im Buch “Mayo Clinics 2018” angegeben. Auf schriftliche Anfrage von AFP antwortete eine Sprecherin der Mayo Clinic, einem Klinikverbund und Forschungszentrum in den USA, am 31. Juli 2023, man führen keine weltweite Verschreibungsstatistik.

Der Autor Paul R. Clayton selbst hat auf eine schriftliche Anfrage von AFP nicht geantwortet.

USA bei Antibiotika im Mittelfeld

Auch der Blick auf einzelne Medikamentengruppen weist darauf hin, dass der Verbrauch von Arzneimitteln in den USA in vielen Bereichen nicht an der Weltspitze liegt. Eine Studie (Link hier archiviert) in der Fachzeitschrift “The Lancet” aus dem Jahr 2021 hat den weltweiten Verbrauch von Antibiotika im Zeitraum von 2000 bis 2018 untersucht. Hierbei kamen die USA und Kanada gemeinsam auf rund 3 Milliarden tägliche Dosen (DDD). Dies entspricht laut der Studie etwa 7,7 Prozent des weltweiten Verbrauchs. Damit liegt die Region etwa hinter Westeuropa, das 8,4 Prozent oder Subsahara-Afrika, das 11,4 Prozent der weltweiten Antibiotikadosen verbraucht.

Beim Verbrauch von Morphiums liegen die USA jedoch beim Gesamtverbrauch weit vorne, so eine Studie des Internationalen Suchtstoffkontrollrats (Link hier archiviert). So wird in dem Land 33,4 Prozent des weltweiten Morphiums verbraucht. Insgesamt liegen die USA damit jedoch hinter Europa, wo 39,4 Prozent des Schmerzmittels verbraucht werden.

“Maximaltherapie” oder “Choosing Wisely”

Des Weiteren erklärt Hobert im Videoausschnitt, dass in den USA Ärzte eine “Maximaltherapie” verordnen müssten, um den Versicherungsstatus behalten zu können. Sonst würden ihnen Klagen drohen. Dieses System “schwappt immer mehr rüber” und werde von den “Großkonzernen, Big Pharma und den Lobbyisten natürlich immer mehr jetzt in die Welt reingedrückt”, so Hobert. Auch in Deutschland steige der Druck, den Patienten Standards zu verordnen und nicht individuell auf sie einzugehen.

In der längeren Fassung des Interviews sagt Hobert, kurz bevor der geteilte Ausschnitt des Videos beginnt: “Ich habe immer noch Menschen, die kommen mit 15 verschiedenen Mitteln aus dem Krankenhaus.” So gehe es bei vielen Erkrankungen und Untersuchungen nicht mehr um den Patienten, sondern nur darum, dass der Arzt “alles maximal gemacht” habe, damit “er nicht ins Gefängnis muss, weil er irgendwas nicht gemacht hat”. Aus diesem Grund gebe es insgesamt eine “Überdosierung” und “Übertherapie”, sagt Hobert im Interview.

Der Behauptung, dass es in Deutschland strukturell zu einer Übertherapie mit Medikamenten komme, widerspricht Reinhard Strametz. Eine an Leitlinien orientierte Therapie besage evidenzbasierte und nicht maximale Versorgung. “Ich kann in einem Rechtsstaat grundsätzlich von Vielen für Vieles angezeigt werden, juristisch problematisch wird es aber nur, wenn ich unbegründet vom besten derzeit verfügbaren Standard abweiche, und der ist seit Jahren im Sozialgesetzbuch V definiert.” Auch in den USA werde durch Initiativen wie Choosing Wisely zunehmend darauf geachtet, dass viel nicht immer viel helfe, sondern es würden in Leitlinien Empfehlungen gemacht, bestimmte Prozeduren ganz bewusst zu unterlassen, so Strametz.

Eine Studie aus dem Jahr 2020 aus den “Annals of Internal Medicine” kommt zu dem Schluss, dass finanzielle Zuwendungen der Pharmaindustrie an Ärzte in den USA, “die klinischen Entscheidungen der Ärzte und die Verschreibung von Arzneimitteln beeinflussen” und zu mehr Verschreibungen führen.

Verschreibungen in Deutschland steigen durch Herzmedikamente und Psychopharmaka

Die Techniker Krankenkasse schreibt in ihrem Gesundheitsreport 2023 (Link hier archiviert), dass in einigen Altersgruppen in Deutschland die Menge an verschriebenen Medikamenten stark angestiegen ist. So sei die Zahl der jährlich verordneten Tagesdosen bei Männern über 60 von 431 im Jahr 2004 auf 799 im 2022 angestiegen.

Reinhard Strametz hat diese Zahlen für AFP eingeordnet. Die steigende Medikation sei zum großen Teil auf den kardiologischen Bereich zurückzuführen: Seit Anfang des Jahrtausends würden Herzerkrankungen per Herzkatheter diagnostiziert und Stents eingesetzt. “Die Herzchirurgie und die Herzinfarktrate sowie die Sterblichkeit durch Herzinfarkt sind seitdem deutlich gesunken.” Der Preis dafür sei aber die Einnahme von Medikamenten wie Blutdrucksenkern oder Blutgerinnungshemmern zur Behandlung der Risikofaktoren für Herzinfarkt und Schlaganfall. “Insgesamt ist die steigende Medikation im kardiologischen Bereich Ausdruck medizinischen Fortschritts”, so Strametz.

Durch die verbesserte medizinische Versorgung steige die Zahl der älteren Menschen in Deutschland stetig an, so Strametz: “Viele dieser Menschen überleben oder vermeiden nun den Herzinfarkt oder Schlaganfall. Sie wären also vorher gar nicht mehr in die Lage versetzt worden, noch Medikamente einzunehmen.” Die steigende Zahl der vorordneten Psychopharmaka (Link hier archiviert) führt der Mediziner auf eine Enttabuisierung psychischer Erkrankungen zurück. Damit gehe eine lange dauernde Unterversorgung zurück, so Strametz.

Laut Daten des Verbands der Ersatzkassen, einem Interessenverband gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland, ist die Anzahl insgesamt verschriebener Medikamente in Deutschland zwischen 1992 von 1063 Millionen Verordnungen auf nur noch 570 im Jahr 2004 gesunken. Seitdem stetigen die jährlichen Verordnungen wieder an und liegen heute bei 692 Millionen. Der Wert der insgesamt pro Jahr verschriebenen Medikamente hat sich im gleichen Zeitraum jedoch fast verfünffacht.

Fazit: Die Aussage, die USA würden die Hälfte aller weltweit produzierten Medikamente verbrauchen, ist falsch. Der tatsächliche Verbrauch liegt für die USA und Kanda bei acht Prozent und damit hinter Westeuropa, Indien oder China. In Bezug auf den Umsatz ist der US-Markt für Arzneimittel jedoch mit Abstand der größte der Welt.

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Ursprünglich hier veröffentlicht.