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Der Internationale Strafgerichtshof kann Wladimir Putin sehr wohl verurteilen, aber er entscheidet nicht in Abwesenheit

Der Internationale Strafgerichtshof kann Wladimir Putin sehr wohl verurteilen, aber er entscheidet nicht in Abwesenheit - Featured image

Author(s): Alexis ORSINI / AFP Frankreich / AFP Deutschland

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) kündigte am 17. März 2023 einen Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten, Wladimir Putin, wegen der illegalen Verschleppung ukrainischer Kinder während der russischen Invasion an. Seitdem wird in zahlreichen Beiträgen in sozialen Netzwerken behauptet, dass der IStgH inzwischen angeblich zugegeben habe, dass er nicht in der Lage sein werde, den Staatschef zu verurteilen. Die Beiträge stützen sich dabei auf ein Interview mit dem Sprecher des IStGH, Fadi El Abdallah, in dem er erklärt, dass der russische Präsident nur dann vor Gericht gestellt werden könne, wenn er bei der Anhörung des IStGH anwesend sei. Fadi El Abdallah erinnerte jedoch lediglich an das Funktionsverfahren des IStGH, der einen Angeklagten nicht in seiner Abwesenheit verurteilen könne, wie mehrere Expertinnen und Experten gegenüber AFP betonten, für die die Beiträge in sozialen Medien eine “irreführende Interpretation” seiner Äußerungen darstellten.

Seit dem 18. März 2023 verbreitete sich die Behauptung in französischsprachigen Beiträgen auf Twitter (hier und hier) und Facebook (hier und hier). Ähnliche Beiträge wurden seit dem 17. März 2023 auch in russischer Sprache auf VKontakte, Telegram und Twitter geteilt.

Die Behauptung: “Der Internationale Strafgerichtshof [IStGH] hat zugegeben,  dass er nicht in der Lage sein wird, Wladimir Putin vor Gericht zu stellen”, behaupten Userinnen und User in sozialen Netzwerken. Die Beiträge verbreiteten sich in Folge der Ankündigung des IStGH vom 17. März 2023, einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin wegen des Kriegsverbrechens der “illegalen Deportation” ukrainischer Kinder während der russischen Invasion auszustellen.

Twitter-Screenshot der Behauptung: 23. März 2023

“Im ukrainischen Fernsehen sagte der Vertreter des IStGH, dass der russische Führer erst vor Gericht gestellt werden müsse, um verhaftet zu werden”, heißt es in einem Beitrag. Der Sprecher des IStGH, Fadi El Abdallah,  hatte in einem Interview mit dem ukrainischen Medium Suspilne am 17. März 2023 den Ablauf des Verfahrens ausgeführt. Userinnen und User drehten die Reihenfolge von Festnahme, dann Gerichtsverfahren, jedoch in ihren Beiträgen um.

“‘Wir können keine Gerichtsverhandlung abhalten, wenn eine Person nicht anwesend ist. Daher können wir, solange sie nicht verhaftet ist, keine Gerichtsverhandlungen in Abwesenheit abhalten. Wir werden daher eine Lösung für diesen Fall suchen, indem wir mit anderen Ländern zusammenarbeiten, die unsere Entscheidung anerkennen’, sagte er”, behauptet der Text weiter. Zudem verweist der Text auf ähnliche Beiträge, die seit dem 17. März 2023 auf VKontakte, Telegram und Twitter in russischer Sprache geteilt wurden. Der Text schließt mit der Aussage, dass “derzeit die  Zuständigkeit des IStGH nicht anerkannt wird, insbesondere von den USA, Russland, der Ukraine, Indien und China”.

AFP veröffentlichte weitere Faktenchecks zum Angriffskrieg in der Ukraine hier.

Mark Kersten ist Assistenzprofessor für Strafrecht an der University of the Fraser Valley in Kanada und Autor eines Buches über den Internationalen Strafgerichtshof (Oxford University Press). Er meint, dass die Chancen, dass Wladimir Putin aus politischen Gründen verhaftet und vor dem IStGH angeklagt wird, zwar gering seien, die Beiträge in sozialen Netzwerken jedoch eine “irreführende Interpretation” der Äußerungen des IStGH-Sprechers darstellten. “Der IStGH hat nie gesagt, dass er Putin nicht verfolgen kann. Das ist durchaus möglich, sobald er sich vor Gericht befindet. Es ist absurd zu behaupten, dass es anders wäre, da das Gericht gerade einen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt hat”, erklärte er gegenüber AFP am 22. März 2023.

Céline Bardet ist Juristin mit Spezialisierung auf Kriegsverbrechen und internationale Kriminalermittlerin. Sie sagte gegenüber AFP am 22. März 2023: “Die Erklärung des Sprechers ist keine Sensationsmeldung, er erklärt das Verfahren vor dem IStGH.”

Raphaëlle Nollez-Goldbach, Forschungsbeauftragte an der nationalen französischen Forschungsorganisation CNRS und Spezialistin für den IStGH, betonte ihrerseits gegenüber AFP am 24. März 2023: “Das bedeutet nicht, dass der IStGH Putin nicht vor Gericht stellen kann. Es bedeutet lediglich, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich ist, ohne die Festnahme und anschließende Überstellung des Verdächtigen ans Gericht.” Vor Veröffentlichung des Artikels hat der IStGH nicht auf die Anfragen von AFP geantwortet.

Der Chefankläger des IStGH, Karim Khan am 24. August 2022 in Khartum, Sudan. – EBRAHIM HAMID / AFP

Ein Urteil in Abwesenheit ist unmöglich

Der Chefankläger des IStGH, Karim Khan, untersucht seit über einem Jahr mögliche Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die während des russischen Angriffskriegs in der Ukraine begangen wurden. Mehr als 16.000 Kinder wurden laut Kiew seit der Invasion am 24. Februar 2022 nach Russland verschleppt. Viele von ihnen sollen in Institutionen und Kinderheimen untergebracht worden sein, wie AFP berichtete.

Am 17. März 2023 kündigte der IStGH auch die Ausstellung eines Haftbefehls gegen die russische Kommissarin für Kinderrechte, Maria Lvova-Belova wegen “illegaler Deportation” ukrainischer Kinder zeitgleich zum Haftbefehl gegen Wladimir Putin an. Die Ausstellung eines Haftbefehls gegen ein amtierendes Staatsoberhaupt, das Mitglied des UN-Sicherheitsrates ist, ist ein beispielloser Schritt für den 2002 gegründeten Internationalen Strafgerichtshof.

Dazu muss, wie die Instanz auf ihrer Website schreibt, “der Angeklagte bei seinem Verfahren, das öffentlich ist, anwesend sein, es sei denn, die Kammer verhängt für bestimmte Gerichtsverhandlungen den Ausschluss der Öffentlichkeit, um die Sicherheit von Opfern und Zeugen oder die Vertraulichkeit sensibler Informationen, die als Beweismittel dienen, zu gewährleisten”.

Joël Hubrecht ist Spezialist für internationales Strafrecht und Programmleiter am Institut für Studien und Forschung zu Recht und Justiz in Paris. Er sagte gegenüber AFP am 22. März 2023: “Der IStGH urteilt tatsächlich nicht in Abwesenheit der Angeklagten, da er in seiner Satzung keine Urteile in Abwesenheit vorsieht.”

Putin muss unter den Mitgliedsländern des IStGH mit einer Verhaftung rechnen

Russland bezeichnet den Haftbefehl gegen Putin als “null und nichtig”, weist die Kriegsverbrechensvorwürfe zurück und erkennt die Zuständigkeit des IStGH dabei nicht an. Die Ukraine ist zwar nicht Vertragspartei des Rom-Statuts, hat aber mit einer gesonderten Erklärung die Gerichtsbarkeit des IStGH anerkannt, da auf ihrem Territorium Verbrechen begangen wurden. Wladimir Putin droht weiterhin eine Festnahme, wenn er in eines der 123 Länder reist, die dem Römischen Statut, dem Gründungsvertrag des IStGH, beigetreten sind.

Die Mitgliedsstaaten des IStGH sind verpflichtet, die Haftbefehle zu vollstrecken. “Die Unterzeichnerstaaten sind verpflichtet, ihre Polizeikräfte einzusetzen, wenn sich eine vom IStGH angeklagte Person in ihrem Hoheitsgebiet aufhält, so sieht es das Recht vor”, erklärte Céline Bardet. “Aber wir haben gesehen, dass es in der Praxis vor einigen Jahren mit [dem ehemaligen sudanesischen Machthaber] Omar al-Bashir komplizierter war, der während seines Aufenthalts in Südafrika hätte festgenommen werden sollen, als er unter dem Haftbefehl des IStGH stand, der aber schließlich das Land verlassen konnte, ohne festgenommen zu werden.”

Raphaëlle Nollez-Goldbach ging ebenfalls auf das jüngste Beispiel ein und erinnerte an die komplizierte Lage, in der sich Südafrika damals befand: “NGOs hatten den südafrikanischen Richter angerufen, damit er den Haftbefehl direkt umsetzt. Al-Bashir musste fluchtartig abreisen, da die südafrikanischen Richter der Regierung nach einer Eilanhörung einen Tag Zeit gaben, um den Fall vorzubereiten. Genau da reiste al-Bashir ab. Die Regierung befand sich in einer sehr schwierigen Lage, nachdem sie ihrem Flugzeug unter Verstoß gegen die Entscheidung eines südafrikanischen Richters die Starterlaubnis erteilt hatte.”

Wie der IStGH selbst auf seiner Website schreibt, ist er “in Ermangelung einer eigenen Polizei” auf die “Zusammenarbeit der Staaten angewiesen, die bei der Festnahme und Überstellung von Verdächtigen unerlässlich ist”. So gab Ungarn, obwohl es das Römische Statut unterzeichnet hat, am 23. März 2023 bekannt, dass es Wladimir Putin nicht an den IStGH ausliefern würde, wenn er sein Hoheitsgebiet betreten sollte, da es dafür angeblich keine Rechtsgrundlage gäbe. “Wir haben nicht die notwendigen Gesetze, um den russischen Präsidenten zu verhaften”, da das Römische Statut “gegen die Verfassung verstoßen würde”, sagte der Kabinettschef von Premierminister Viktor Orban, Gergely Gulyas, ohne weitere Einzelheiten zu nennen.

Eine Verhaftung Wladimir Putins durch ein anderes Land aufgrund des Haftbefehls des IStGH käme einer “Kriegserklärung” an Moskau gleich, warnte seinerseits am 22. März 2023 der derzeitige stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew.

“Stellen wir uns das Ganze vor […]. Das Staatsoberhaupt einer Atommacht reist, sagen wir, zum Beispiel nach Deutschland und wird verhaftet”, sagte der russische Ex-Präsident, der für aufsehenerregende Erklärungen bekannt ist, und führte aus, dass in einem solchen Szenario “alle unsere Kapazitäten, Raketen und anderes, auf den Bundestag, das Büro des Kanzlers und so weiter niedergehen würden”.

Ein Porträt von Wladimir Putin bei einer Demonstration in Belgrad, Serbien, am 15. April 2022. – ANDREJ ISAKOVIC / AFP

“Kein Urteil möglich” ohne vorherige Anklageschrift

Einem Staat, der das Römische Statut nicht unterzeichnet hat, stehe es auch weiterhin frei, den russischen Präsidenten festzunehmen und ihn an den IStGH zu überstellen, betonte Céline Bardet. “Die USA haben den IStGH nicht anerkannt, aber sie können beschließen, wenn Wladimir Putin ihr Territorium besucht, ihn festzunehmen und ihn dem Strafgerichtshof zu übergeben.” Ein solcher Fall würde jedoch eine “juristische Debatte” über die Frage der Immunität eröffnen, die Wladimir Putin vor dem IStGH geltend machen könnte, stellte Joël Hubrecht fest.

Für den Experten ist die Verhaftung von Wladimir Putin zwar “sehr ungewiss”, ebenso wie “sein tatsächliches Urteil vor dem IStGH“, doch „ohne vorherige Anklageschrift wird es kein mögliches Urteil geben”. Weiter erklärte er, dass das Handeln der Justiz noch nie davon abhängig gewesen sei, dass ein Urteil sicher gefällt werde. “Die Angeklagten des IStGH wurden alle auf der Grundlage einer zuvor ausgestellten Anklageschrift festgenommen.” Für Hubrecht liegt die “Verkürzung” der Beiträge in sozialen Netzwerken darin, “dass man sich auf das Urteil konzentriert, als ob die gesamte Arbeit der Justiz darauf hinauslaufen würde, obwohl das Urteil nur das Ergebnis dieser Arbeit ist”.

Raphaëlle Nollez-Goldbach schloss sich dem an: “Die Rolle des IStGH-Anklägers ist es, Haftbefehle zu beantragen, die Rolle der Richter ist es, diese zu bestätigen, wenn sie das Verfahren einhalten, das bedeutet ein Mindestmaß an Beweisen in diesem Stadium. Damit erfüllte das Gericht seine Rolle: Es liegt dann an den Staaten, durch ihre Zusammenarbeit dafür zu sorgen, dass Recht gesprochen werden kann.”

Haftbefehl mit “politischen Auswirkungen”

Wie Karim Khan in einem Interview mit AFP am 17. März 2023 betonte, verfüge der IStGH über andere Mittel, um bestimmte Fälle in Abwesenheit des Angeklagten voranzutreiben. Der Chefankläger hatte die Richter unter anderem aufgefordert, eine Anhörung abzuhalten, um die Anklage gegen den flüchtigen Joseph Kony zu bestätigen. Kony ist/war Anführer der Lord’s Resistance Army, die eine blutige Rebellion in Uganda begonnen hat und befindet sich noch immer auf der Flucht. “Dieses Verfahren kann für jeden anderen Fall zur Verfügung stehen, auch für den aktuellen” in der Ukraine, betonte Karim Khan.

Wie Céline Bardet erklärte, kann der IStGH auf diese Weise eine Anhörung in Abwesenheit mit Zeugen durchführen: “Es geht lediglich darum, die Anklagen zu bestätigen und in Kontext zu setzen. Das kann eine starke Wirkung in der Öffentlichkeit haben, aber es ist kein Prozess.”

Mark Kersten pflichtete dem bei: “Dieses Verfahren ist wichtig, aber es stellt nicht die Unschuldsvermutung in Frage, die das Herzstück der wichtigsten Praktiken und Grundsätze für faire Gerichtsverfahren ist.”

Raphaëlle Nollez-Goldbach führte den wichtigsten Vorteil einer solchen öffentlichen Anhörung detailliert aus: “Wenn die Anklagen bestätigt werden, kann man damit zeigen, dass die nächste Beweisstufe erreicht wurde, dass die Richter der Ansicht waren, dass genügend Beweise vorlagen, um in die Verhandlung zu gehen. Das bedeutet nicht, dass der Angeklagte schuldig ist, aber es zeigt, dass genügend Beweise vorliegen, um zu glauben, dass ein Urteil notwendig ist. Dies würde den Druck und die Legitimität durch das Recht weiter verstärken.”

Céline Bardet ist der Ansicht, dass der IStGH-Haftbefehl  gegen Wladimir Putin ein potenzielles Druckmittel sei, das “einen Teil des russischen politischen Umfelds dazu bringen könnte, Wladimir Putin irgendwann aus seinem Amt zu entfernen. In diesem Fall wäre er verwundbarer und Russland könnte ihn selbst an den IStGH verweisen.”

Auch wenn die Expertin dieses Szenario für unwahrscheinlich hält, betonte sie, dass der Haftbefehl nach wie vor ein “starker, symbolischer Akt ist, der zwangsläufig politische Auswirkungen hat, da Wladimir Putin von einer internationalen Institution beschuldigt wird, ein Kriegsverbrecher zu sein.”

Anlässlich einer internationalen Konferenz in London am 20. März 2023 erinnerte der EU-Justizkommissar Didier Reynders daran, dass die Europäische Union, die seit Beginn des Krieges in der Ukraine mehr als 10 Millionen Euro für den IStGH zur Verfügung gestellt hat, bereit ist, das Römische Statut bei Bedarf zu ändern, um dem Gerichtshof die Möglichkeit zu geben, die von Russland begangenen “Aggressionsverbrechen” zu verurteilen.

Andriy Kostin, Generalstaatsanwalt der Ukraine, unterstützte diese Forderung. Seiner Ansicht nach wären “diese Kriegsverbrechen nicht begangen worden, wenn das Aggressionsverbrechen nicht von Putin begangen worden wäre”. Denn der IStGH ist nur für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine zuständig, nicht aber für Russlands “Aggressionsverbrechen”, da Moskau und Kiew das Römische Statut nicht unterzeichnet haben.

Fazit: Der Internationale Strafgerichtshof ist sehr wohl in der Lage, Wladimir Putin wegen begangener Kriegsverbrechen zu verurteilen. Laut den Statuten müsste der russische Präsident für eine Verurteilung persönlich vor dem Gericht erscheinen.

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Ursprünglich hier veröffentlicht.