Auch zwei Jahre nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine unterstützt Deutschland das Land weiter mit humanitärer, finanzieller und militärischer Hilfe. In diesem Zusammenhang behaupten Internetnutzer, dass Deutschland mit seinen Waffenlieferungen gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag verstoßen habe, einem Vertrag, der 1990 zwischen der BRD, der DDR und den alliierten Siegermächten unterzeichnet wurde. Das ist jedoch falsch, wie aus dem Dokument hervorgeht und wie mehrere Expertinnen und Experten für internationale Beziehungen AFP bestätigten. Im Gegenteil, Deutschland respektiert mit den Waffenlieferungen das in der Charta der Vereinten Nationen anerkannte “Recht auf kollektive Selbstverteidigung” gegen den russischen Überfall auf die Ukraine.
“In Russland bereitet man sich vor den Vertrag mit der BRD aufzulösen, welcher die Grundlage für den Frieden in der Region für die letzten 35 Jahre gewesen ist. Der Grund: Entgegen der Festlegungen des Vertrages werden deutsche Waffen gegen Russland (als Rechtsnachfolger der UdSSR) eingesetzt.” So heißt es in Posts auf Facebook über den Zwei-plus-Vier-Vertrag, der 1990 in Moskau unterschrieben wurde. Auf Telegram teilte die prorussische Influencerin Alina Lipp die Behauptung mit ihren über 180.000 Followern.
Die Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine seit der russischen Invasion des Landes im Februar 2022 würden gegen das internationale Abkommen verstoßen, das zwischen Frankreich, den USA, dem Vereinigten Königreich, der UdSSR und den beiden damaligen deutschen Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutsche Demokratische Republik geschlossen wurde.
Der Text wurde auch auf Englisch und Französisch geteilt. Im Post werden die Artikel 2, 3 und 5 des Vertrages zusammengefasst. Dem zufolge verpflichtet sich Deutschland, “dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird”, “auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen” verzichtet. Und schließlich könnten laut Post “nach dem Abschluss des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden”.
Mehrere Experten erklärten jedoch gegenüber AFP, die Behauptung, Deutschland habe mit seinen Waffenlieferungen an die Ukraine gegen die Bedingungen des Vertrages verstoßen, sei falsch. Bereits im April 2023 hat AFP ähnliche Behauptungen widerlegt, die behaupteten, Deutschland würde mit Waffenlieferungen gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag verstoßen.
“Was dort behauptet wird, hat absolut keinen Wert, Deutschland hat keine Vertragsverletzung begangen”, sagte Nicolas Badalassi, Professor für Zeitgeschichte am Institut für politische Studien (IEP) in Aix-en-Provence, Frankreich, am 27. Februar 2024 gegenüber AFP.
Bernhard Blumenau, außerordentlicher Professor internationale Geschichte und Politik an der Universität St. Andrews in Großbritannien, erklärte am 27. Februar 2024 gegenüber AFP, der Vertrag verbiete Deutschland nicht ausdrücklich, Waffen in die Ukraine zu schicke. “Artikel 2 besagt, dass Deutschland sich nicht an einem Angriffskrieg beteiligen darf, aber die Entsendung von Waffen stellt keinen solchen Fall dar.”
Hélène Miard-Delacroix, Professorin für Geschichte an der Universität Sorbonne in Paris, erklärte am 28. Februar 2024 gegenüber AFP, dass die Darstellung, deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine verstießen gegen den Zwei-plus-Vier-Vertrag, beruhe auf einer “falschen Interpretation” der Formulierungen des Artikel 2.
Vertrag ebnete den Weg für die deutsche Wiedervereinigung
Wie Hélène Miard-Delacroix schrieb, betrifft der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnete Vertrag keineswegs die “bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland”: “Die Unterzeichner sind die beiden damals noch existierenden deutschen Staaten (BRD und DDR) und die vier Siegermächte von 1945 (USA, Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion).” Tatsächlich soll dieser Vertrag “die besondere Situation beenden, die nach dem Ende des Krieges entstanden war.”
Wie die Expertin erklärte, beendete der Zwei-plus-Vier-Vertrag den Viermächte-Status von Berlin und das Mitspracherecht der vier Alliierten über die Zukunft Deutschlands. Diese Resolution sei rechtlich notwendig gewesen, damit die Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 in Kraft treten konnte, da sie “die Zustimmung der Alliierten zur Wiedervereinigung gab, während sie gleichzeitig auf ihre Rechte über Deutschland verzichteten, das in der Folge voll souverän werden konnte.”
Waffenlieferungen stimmen mit Zwei-plus-Vier-Vertrag überein
Im Einzelnen heißt es in Artikel 2 des Zwei-plus-Vier-Vertrags (hier archiviert), dass die BRD und die DDR ihre Erklärungen bekräftigen, dass “von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird”, und weiter: “Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.”
Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen (hier archiviert) sieht das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung im Falle eines “bewaffneten Angriffs” auf ein Mitglied der Vereinten Nationen vor, zu dem auch die Ukraine gehört.
Laut Nicolas Badalassi setzte Deutschland, ganz im Gegenteil zu dem, was in dem in sozialen Netzwerken verbreiteten Text behauptet wird, mit seinen Waffenlieferungen an die Ukraine den Vertrag von 1990 “perfekt” um: “Es hält sich an die Charta der Vereinten Nationen, die die Achtung der Souveränität der Staaten und die Unverletzlichkeit der Grenzen vorsieht, indem es Waffen an die Ukraine liefert, um diese Prinzipien zu schützen.”
Bernhard Blumenau stimmte zu. Im Krieg in der Ukraine werde Russland weitgehend als Aggressor anerkannt, was jede angebliche Vertragsverletzung durch Deutschland in diesem Fall hinfällig mache: “Artikel 2 des Zwei-plus-Vier-Vertrags erlaubt Deutschland den Einsatz seiner Waffen, sofern dieser Einsatz im Einklang mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen steht. Somit kann Deutschland die Ukraine gemäß dem Grundsatz der kollektiven Selbstverteidigung in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen unterstützen.”
Ein Ende des Vertrages wäre “bestenfalls symbolisch”
Die Darstellung des Zwei-plus-Vier-Vertrags als “Grundlage für den Frieden in der Region” seit 1990, wie in dem auf Telegram und Facebook verbreiteten Text, ist laut Hélène Miard-Delacroix eine Umkehrung der Rollen: “Das würde bedeuten, dass es Deutschland war, das die bisherige Friedensordnung bedroht hat […]. Nun weiß man sehr wohl, dass es das Ende des Kalten Krieges und die friedliche Zustimmung der Sowjetunion unter Gorbatschow, ihren Satellitenstaaten die Freiheit zu lassen, frei über ihre Zukunft zu entscheiden, war, die die Errichtung einer Friedensordnung in Europa ermöglichte.”
Vielmehr sei es die daraufhin unterzeichnete Charta von Paris, die auf der Grundlage des Helsinki-Abkommens am 21. November 1990 erstellt, wurde, die den Frieden begründete, so Miard-Delacroix. Die Charta wurde von 34 Staats- und Regierungschefs unterzeichnet und besiegelte das Ende des Kalten Krieges und die Schaffung einer neuen Friedensordnung in Europa.
Im Post in den sozialen Medien wird zudem der verstorbene Rechtswissenschaftler Klaus Stern zitiert: “Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ersetzt damit Kraft seines auf mehr als Frieden gerichteten Inhalts jeden Friedensvertrag mit den Kriegsgegnern.” Die Experten, mit denen AFP gesprochen hat, stellen jedoch klar, dass es sich bei dem Zwei-plus-Vier-Vertrag formal nicht um einen Friedensvertrag handelt.
Wie Chantal Metzger, emeritierte Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Lothringen, am 28. Februar 2024 gegenüber AFP erklärte, war man zwar “bis zum 12. September 1990 bei der bedingungslosen Kapitulation vom 8. bis 9. Mai 1945 geblieben”, da kein Friedensvertrag unterzeichnet worden sei, doch “der Zwei-plus-Vier-Vertrag, wenn er auch einem Friedensvertrag ähnelt, hat nicht den Titel eines solchen”.
Ein Aspekt, den auch Hélène Miard Delacroix betonte. Da es am Ende des Zweiten Weltkriegs keinen Friedensvertrag gab und der internationale Status Deutschlands ein besonderer war, könne man davon ausgehen, dass der Zwei-plus-Vier-Vertrag, indem er diesem Zustand ein Ende setzte, die Funktion erfülle, die man von einem Friedensvertrag erwartet. “Allerdings enthält er nicht die Klauseln eines Friedensvertrags, er trägt nicht dessen Namen und erwähnt insbesondere nicht die Frage möglicher Reparationen”, so die Historikerin.
Bernhard Blumenau fügte hinzu: “Der praktische Zweck dieses Vertrages bestand darin, als Friedensvertrag zwischen den ehemaligen Feinden des Zweiten Weltkriegs zu fungieren, da kein Friedensvertrag unterzeichnet worden war.” Aus rechtlicher Sicht sei es jedoch kein Friedensvertrag. Es wäre anachronistisch gewesen, ein solches Dokument 1990, 45 Jahre nach dem Ende des Konflikts, zu unterzeichnen, so der Wissenschaftler.
In einigen Posts auf Facebook steht zudem: “Damit fällt Deutschland de jure wieder unter das Kriegsrecht nach 1945.” Sollte Russland den Zwei-plus-Vier-Vertrag jemals aufkündigen, wie es in dem in sozialen Netzwerken verbreiteten Text heißt, wäre ein solcher Akt laut Blumenau “bestenfalls symbolisch”: “Die Beendigung des Vertrages bedeutet nicht den automatischen Übergang zu einer Kriegssituation – ganz einfach, weil es kein Friedensvertrag ist.”
Außerdem stellte Bernhard Blumenau fest, dass die Artikel 3 und 5 des Vertrages für die deutsche Position gegenüber der Ukraine “irrelevant” seien. Diese bezögen sich auf die Beziehung der beiden deutschen Staaten “zur Herstellung, zum Besitz und zur Kontrolle von nuklearen, biologischen und chemischen Waffen”, beziehungsweise auf die Nichtverlegung “ausländischer Streitkräfte und Atomwaffen oder Trägersysteme für Atomwaffen” auf das Gebiet der ehemaligen DDR. Der Vertrag sehe vor, dass keine Atomwaffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden dürfen, aber es gebe derzeit auch keine. Deutschland habe zudem nicht die Absicht, Atomwaffen zu beschaffen. Deshalb stellt der Experte klar: “Dieser Artikel hat keinen Bezug zur Situation in der Ukraine.”
Umfangreiche Militärhilfe Deutschlands für die Ukraine
Im November 2023 kündigte Deutschland eine neue Militärhilfe für die Ukraine in Höhe von 1,3 Milliarden Euro an. Die Hilfe umfasst vier weitere Luftabwehrsysteme, die bis 2025 geliefert werden sollen, sowie dringend benötigte Artilleriemunition. Bis Ende Dezember 2023 hatte die Europäische Union, die sich im Frühjahr 2023 verpflichtet hatte, bis März 2024 eine Million Granaten an die Ukraine zu liefern, unter Rückgriff auf ihre Bestände nur rund 300.000 Stück Artilleriemunition geliefert.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bekundete Ende Januar 2024 seine Bereitschaft, die europäische Militärhilfe für die Ukraine zu erhöhen. Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Beitragszahler für die Unterstützung der Ukraine in Form von humanitärer, finanzieller und militärischer Hilfe.
Am 16. Februar 2024 unterzeichneten Olaf Scholz und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Berlin ein Sicherheitsabkommen. Am Rande bezeichnete der deutsche Bundeskanzler dies als “historisch”und versicherte, Deutschland stehe so lange wie nötig an der Seite der Ukraine. Olaf Scholz bekräftigte jedoch am 26. Februar 2024 erneut seine Ablehnung einer Lieferung von Taurus-Langstreckenraketen. Diese Haltung begründete er mit dem Risiko, dass Deutschland so in den Krieg verwickelt werden könnte.
Die deutschen Taurus-Raketen haben eine Reichweite von über 500 Kilometern und könnten daher Ziele weit innerhalb des russischen Hoheitsgebiets treffen. Die Bundesregierung weigert sich seit mehreren Monaten, die Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern, da befürchtet wird, dass der Konflikt so auf russisches Territorium übergreifen und so möglicherweise eskalieren könnte.
Fazit: Im Netz wird behauptet, Russland plane den 1990 geschlossenen Zwei-plus-Vier-Vertrag aufzulösen, da Deutschland durch die Waffenlieferungen an die Ukraine gegen das Abkommen verstoßen hätte. Expertinnen und Experten bestätigten aber gegenüber AFP, dass Deutschland den Vertrag nicht verletzt habe, da Waffenlieferungen das in der Charta der Vereinten Nationen anerkannte “Recht auf kollektive Selbstverteidigung” respektieren.