Diese Behauptung ist falsch. In der fraglichen EU-Debatte geht es um einen besseren Austausch von Erkenntnissen nationaler Geheimdienste.
Im Kern geht es um einen Bericht des früheren finnischen Staatspräsidenten Sauli Niinistö, den von der Leyen gemeinsam mit dem Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, in Auftrag gegeben hatte. Niinistö sollte Vorschläge machen, wie die zivile und militärische Reaktionsbereitschaft in Europa verbessert werden könnte. Dabei ging es vor dem Hintergrund des Klimawandels, zunehmender geopolitischer Spannungen und des russischen Krieges gegen die Ukraine um die Frage, wie sich Europa besser auf mögliche Krisen vorbereiten könnte.
In dem Video wird daraus die Behauptung, die EU solle «jetzt einen eigenen Geheimdienst inklusive weitreichender Befugnisse bekommen» (0:05). «Die Machtergreifung von Brüssel wird immer krasser», sagte der Präsentator. Kommissionspräsidentin von der Leyen plane «den nächsten Schritt der Machtergreifung». Europa solle «einen Geheimdienst nach Vorbild der CIA bekommen». Aber das ist falsch.
Niinistö-Bericht dreht sich um Krisenvorsorge
Niinistö sollte untersuchen, wie die frühzeitige Erkennung von Gefahren, die strategische Vorausschau und Frühwarnsysteme «als Antrieb für koordinierte Maßnahmen» verbessert werden könnten. Zu den Themen gehörte auch die Frage, wie die zivile und militärische Bereitschaft koordiniert verbessert werden könnte, um die Widerstandsfähigkeit der EU zu stärken. Man wolle «Krisen unterschiedlichen Ursprungs» besser verhindern und die Abwehrkräfte der EU mit zivil-militärischer Zusammenarbeit, öffentlich-privaten Partnerschaften sowie internationalen Partnerschaften stärken.
Der Finne legte seinen Bericht am 30. Oktober 2024 in Brüssel vor. Bei der Behauptung, darin werde die Schaffung eines EU-Geheimdienstes im Stile des US-Geheimdienstes CIA (Central Intelligence Agency) gefordert, stützt sich der Präsentator des Videos auf einen Bericht der Webseite Politico. Tatsächlich wird auf keiner der 165 Seiten des Niinistö-Berichts der US-Geheimdienst CIA auch nur erwähnt. Die Empfehlung, einen solchen EU-Geheimdienst einzurichten, findet sich dort ebensowenig.
Nationale Dienste sollen zusammenarbeiten
Stattdessen gibt es folgende Empfehlung: «Stärkung der nachrichtendienstlichen Strukturen der EU durch ein schrittweises Vorgehen hin zu einem vollwertigen EU-Dienst für nachrichtendienstliche Zusammenarbeit.» Dass dies nicht die Schaffung eines gesonderten «EU-Geheimdienstes mit weitreichenden Befugnissen» bedeutet, wird aus der Erläuterung dieser Empfehlung deutlich. Dort heißt es unter anderem (Seite 113): «Das Ziel sollte nicht darin bestehen, die Aufgaben der nationalen Nachrichtendienste und der nationalen Sicherheitsbehörden zu übernehmen und in deren Vorrechte im Bereich der nationalen Sicherheit einzugreifen.»
Vielmehr gehe es darum, die bereits bestehende Stelle für nachrichtendienstliche Analysen SIAC (Single Intelligence Analysis Capacity) zu stärken, die wiederum aus dem ebenfalls bereits existierenden EU-Geheimdienstzentrum (IntCen) und dem Geheimdienst-Direktorat des Militärstabes der EU (EUMS Int) besteht. Ziel der verbesserten Zusammenarbeit soll es sein, die politischen Entscheidungsträger der EU noch besser als bisher über die Sicherheitslage und mögliche Bedrohungen zu informieren.
Von der Leyen betont Informationsaustausch
«In diesem Sinne sollten wir auf die Verbesserung des Informationsflusses, der Informationsbeschaffung und der Sammlung von geheimdienstlichen Erkenntnissen setzen», sagte Von der Leyen bei der Vorlage des Niinistö-Berichts. «Es liegt in unser aller Interesse, dass wir, weil wir uns in der Europäischen Union gegenseitig schützen und füreinander einstehen, auch einen hervorragenden Informationsaustausch haben, um entsprechend handeln zu können.»
Dahinter steht die Tatsache, dass viele Geheimdienste kritische Informationen nur sehr selektiv mit einigen anderen Staaten teilen, weil sie fürchten, dass ihre Erkenntnisse durch das Teilen mit einer größeren Zahl von Staaten beispielsweise an Moskau weitergeleitet werden könnten. Es sei daher wichtig, das «gegenseitige Vertrauen» zu stärken (Seite 19).
Nationale Geheimdienste behalten ihre Aufgaben
Dass es darum geht, einen besseren Austausch von nationalen Geheimdienstinformationen und nicht einen neuen EU-Geheimdienst zu organisieren, macht auch der Bericht des früheren finnischen Präsidenten mehrfach deutlich. Dort heißt es ausdrücklich und mehrfach, der Dienst für die Zusammenarbeit von Geheimdiensten solle der politischen Entscheidungsfindung dienen, «ohne die Aufgaben der nationalen Nachrichtendienste der Mitgliedstaaten einschließlich deren Rolle bei der Sammlung von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen zu reproduzieren» (Seite 23).
In dem Video wird hingegen behauptet, der von der EU angeblich geplante Geheimdienst diene «dann eben nicht dem Zivilschutz und der Abwehr von Gefahren von Übersee, sondern einzig und allein dazu, die eigenen Mitgliedsländer auszuspionieren und noch weiter in die nationale Integrität einzugreifen» (3:10). Weder der Niinistö-Bericht noch Mitteilungen oder Äußerungen seitens der EU-Kommission enthalten Anhaltspunkte für diese Behauptung.
Bessere Handlungsfähigkeit der Bürger angestrebt
In dem Video wird auch behauptet, bei den Vorschlägen des finnischen Präsidenten handle es sich in Wirklichkeit um Pläne für eine «weitere Machtergreifung» von der Leyens (2:10). Im Bericht werde vom «Einbeziehen der Zivilbevölkerung für die Landesverteidigung» gesprochen. «Wir müssen hier dringend die Notbremse ziehen» (0:25).
Tatsächlich wird in dem Bericht mehrfach von der Bedeutung der Zivilgesellschaft und des wirtschaftlichen Sektors gesprochen, wenn es um die Durchhaltefähigkeit eines Staates in einer schweren Krise geht (Seite 19). Die Bürger sollten «in unterschiedlichen Rollen» aktiv bei der Vorbereitung auf Krisen und in Erster Hilfe tätig werden. «Die Handlungsfähigkeit der Bürger angesichts einer Katastrophe oder eines Unglücks muss gestärkt werden, indem die Vorbereitung des Einzelnen und der Haushalte in allen Bereichen intensiviert wird», heißt es.
Bericht lässt mögliche Dienstpflicht offen
Der Bericht lässt die Frage einer möglichen Dienstpflicht für Bürger eines Landes ausdrücklich offen. Er verweist jedoch darauf, dass es in der EU schon unterschiedliche Modelle gebe und es sinnvoll sein könnte, berufliche Karrieren im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich, beispielsweise in der Bekämpfung von Cyberangriffen, attraktiver zu machen (Seite 85).
Der Präsentator des Videos behauptet auch (2:50): «Die Europäische Union hat sich ausschließlich um wirtschaftliche Beziehungen in der EU und einen stabilen Währungsraum zu kümmern. Um nichts anderes. Wir brauchen keinen EU-Geheimdienst. Wir brauchen keine EU-Spione.» Die EU sei eine «machthungrige Krake geworden, die jetzt auch noch die kritischsten und ureigensten Aufgaben der Nationalstaaten an sich ziehen will». Diese Behauptung steht nicht nur im Widerspruch zu den tatsächlichen Empfehlungen des Niinistö-Berichts, sie ist auch ansonsten falsch.
EU-Vertrag regelt gemeinsame Sicherheitspolitik
Die EU-Verträge – die übrigens von den nationalen Parlamenten aller Mitgliedstaaten ratifiziert wurden – sehen keineswegs vor, dass sich die Europäische Union nur um wirtschaftliche Beziehungen in der EU kümmern sollte. Ganz im Gegenteil. Ein erheblicher Teil des Vertrages befasst sich (Titel V) mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.
Unter anderem heißt es in Artikel 42: «Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit.»
Und in Artikel 37 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union heißt es ausdrücklich: «Es steht den Mitgliedstaaten frei, untereinander und in eigener Verantwortung Formen der Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den zuständigen Dienststellen ihrer für den Schutz der nationalen Sicherheit verantwortlichen Verwaltungen einzurichten, die sie für geeignet halten.»
Zudem handelt es sich bei dem Bericht des finnischen Ex-Präsidenten lediglich um eine Expertenmeinung. Es gibt bisher keinen entsprechenden Gesetzesvorschlag der EU-Kommission – und erst recht keine Verhandlungen über dieses Thema zwischen den EU-Regierungen und innerhalb des Europaparlaments.
(Stand: 04.11.24)