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Diese Behauptungen über Geburtsurkunden aus der Reichsbürgerszene sind falsch

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Author(s): Katharina ZWINS / AFP Österreich

Ein Kind von seinen Eltern zu trennen ist in Deutschland nur unter sehr engen Voraussetzungen möglich. Online verbreitet sich jedoch eine falsche Behauptung aus der Reichsbürgerszene, wonach Kinder ihren Eltern aufgrund der Unterzeichnung der Geburtsurkunde entzogen werden könnten. Fachleute bestätigten gegenüber AFP, dass eine Trennung von Eltern und Kind nur als letztes Mittel per Gesetz erlaubt sei. Diese Maßnahme ist stets an das Kindeswohl geknüpft. Rechtlich gesehen gehört ein Kind außerdem weder den Eltern noch dem Staat – anders als im geteilten Beitrag behauptet.

“Gut zuhören das euer Kind nicht euch gehört”, heißt es in einem Facebook-Video vom 7. August 2023. In dem rund dreiminütigen Clip erklärt eine Frau unter anderem, dass der deutsche Staat Eigentumsrechte an Kindern hätte. Die Unterschrift auf der Geburtsurkunde würde dem Staat erlauben, Kinder ihren Eltern zu entziehen.

Laut Beschreibung im Video heißt die Frau Heike Werding. Unter ihrem Namen steht “Deutsche Völker”. Werdings Begründung für ihre Behauptung: “Warum kann ein Kind abgeholt werden und den Eltern entzogen werden? Die Ursache dafür ist eine Rechtsgrundlage. Da geht es um Eigentumsrechte. (…) Und sie (Eltern, Anm. d. Red.) haben eine Geburtsurkunde unterschrieben, einen Eintrag ins Geburtenregister und sind damit, insbesondere die Mutter, 50-prozentige Aktieninhaberin einer Obligation geworden. Und diese Obligation ist das Kind.”

Der Clip wurde auf Facebook über 4.000 Mal geteilt. Auch auf X, ehemals Twitter, und Tiktok wird der Beitrag verbreitet.

Facebook-Screenshot der Behauptung: 7. September 2023

Die Aussagen in dem geteilten Beitrag sind jedoch falsch. Sowohl die aktuelle Rechtslage als auch Einschätzungen von Fachleuten zeigen, dass Kinder weder ihren Eltern noch dem Staat gehören. Sie können nur unter strengen, gesetzlichen Voraussetzungen vom deutschen Jugendamt in Obhut genommen werden.

Die Frau im Video, Heike Werding, ist eine bekannte Figur der deutschen Reichsbürgerszene und war Chefin der 2016 in Berlin gegründeten und verbotenen Gruppe “Geeinte deutsche Völker und Stämme”. Im November 2022 wurde sie zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Werding wurde zur Last gelegt, als Führungsfigur der verbotenen Gruppierung in sozialen Netzwerken und bei Vorträgen Ideologien von Reichsbürgerinnen und -bürgern sowie rassistische Inhalte verbreitet zu haben.

Das aktuell verbreitete Video mit Behauptungen der Reichsbürgerin Werding ist auch Quelle für Falschinformationen über den Wert von Geburtsurkunden. Diese hat das Faktencheck-Team der dpa hier überprüft. Eine Rückwärtssuche führt zudem zu weiteren Clips mit Werding, in denen sie Behauptungen zu ähnlichen Themen aufgestellt hat. Sie meinte etwa hier, dass Neugeborene mit der Geburtsurkunde als verschollen gemeldet werden würden. Mit Beginn des siebten Lebensjahres würden sie angeblich für tot erklärt werden.

AFP hat bereits in der Vergangenheit Behauptungen aus der Reichsbürgerszene überprüft (etwa hierund hier).

Reichsbürgerszene in Deutschland

Das Reichsbürgermilieu in Deutschland ist breit gefächert und reicht von Einzelpersonen über bundesländerübergreifende Zusammenschlüsse und virtuelle Netzwerke im Internet. Sie verbindet, dass sie “die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren”, wie es der vom deutschen Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) veröffentlichte Verfassungsschutzbericht 2022 (hier archiviert) zusammenfasst. Deutschlandweit schätzt der Bericht die Szene auf etwa 23.000 Personen und rechnet ihr 1856 politisch motivierte Straftaten im Jahr 2022 zu.

Nähere Informationen zu Reichsbürgerinnen und -bürgern des deutschen Bundesamtes für Verfassungsschutz oder des BMI finden sich zudem hier und hier.

Generalbundesanwalt warnt vor wachsender Gewaltbereitschaft in Reichsbürger-Szene: Entwicklung seit 2016 – AFP

 

Das geteilte Video findet sich auch auf einem Youtube-Kanal mit dem Namen “Heike Werding” und wurde bereits am 26. Januar 2021 hochgeladen. “Das Video steht unter der Marke Heike Werding”, heißt es in der Beschreibung. Auch auf ihrem Telegram-Kanal wurde derselbe Clip ebenfalls 2021 veröffentlicht.

In den Videobeschreibungen auf dem Youtube-Kanal wird auf mehrere Websiten verlinkt. Diese konnte AFP nicht aufrufen. Eine Anfrage an die dort ebenfalls angegebenen E-Mail-Adressen mit der Bitte um Konkretisierung der Behauptungen konnte nicht zugestellt werden.

Laut Gesetz kein “Eigentum” an Kindern

Eigentum ist in Deutschland im dritten Buch des Bürgerlichen Gesetzbuches (hier archiviert) geregelt. Die Bestimmungen beinhalten jedoch lediglich Normen zum Eigentum an Sachen, Tieren oder etwa Grundstücken – nicht an Personen. Eine Sprecherin des deutschen Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) schrieb AFP dazu am 30. August 2023: “Eigentum der Eltern an dem Kind, wie es etwa in Bezug auf eine Sache bestehen kann, besteht nicht.”

Die Rechte und Pflichten der Eltern in Bezug auf ihr Kind in Deutschland sind ebenfalls im Bürgerlichen Gesetzbuch beschrieben. Wie für jedes rechtsstaatliche Handeln gilt auch hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der eine Trennung von Eltern und Kind nur als letztes Mittel erlaubt. Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann, heißt es im Gesetz explizit.

Dies ist in Deutschland auch grundgesetzlich abgesichert. Nach Artikel 6 Absatz 3 Grundgesetz (hier archiviert) dürfen Kinder gegen den Willen der Erziehungsberechtigten nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen.

Steffen Augsberg, Professor für Öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen, schrieb AFP am 29. August 2023: “Ein Kind von seinen Eltern zu trennen, gehört zu den intensivsten Eingriffen, die man sich vorstellen kann; das ist deshalb nur unter sehr engen, an das Kindeswohl geknüpften Voraussetzungen möglich.” Mit “Eigentum” habe das zudem nichts zu tun: “Das Kind gehört weder den Eltern noch dem Staat. Es widerspräche der grundlegenden Vorgabe des Menschenwürdeschutzes, einen Menschen in diesem Sinne wie eine Sache zu behandeln.”

Eine Sprecherin des deutschen Bundesministeriums der Justiz (BMJ) schrieb AFP am 30. August 2023 und konkretisierte: “Das Bundesverfassungsgericht hat erstmals im Jahr 1968 ausdrücklich betont, dass Kinder selbst Grundrechtsträger sind und Anspruch auf den Schutz des Staates haben (Beschluss vom 29. Juli 1968).” Im Sinne des Grundgesetzes ist das Kind “ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit”, heißt es. Daraus habe das Gericht abgeleitet, “dass das Wohl des Kindes den Richtpunkt für den Auftrag des Staates bildet, über die Pflege und Erziehung der Kinder durch die Eltern zu wachen.” In der Folge haben Gerichte immer wieder so entschieden und die Grundrechte von Kindern im Lichte ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit anerkannt. Das gelte laut BMJ auch im Zivilrecht, also dem Rechtsgebiet, das Verhältnisse von Personen untereinander regelt : “Daher gibt es keine gesetzliche Bestimmung, die ein Eigentum an Kindern behauptet oder gar anordnet.”

Auch die Geburtsurkunde sowie der Eintrag in das Geburtenregister begründen kein Eigentumsrecht – anders als im geteilten Beitrag behauptet. Im Personenstandsgesetz (hier archiviert) ist festgelegt, wie Daten zu etwa Geburt, Begründung der Ehe oder Tod dokumentiert werden müssen. Auch hier gibt es keine diesbezügliche Bestimmung. Laut BMI (hier archiviert) läuft das Prozedere folgendermaßen ab: “Die Geburt eines Kindes muss dem Standesamt, in dessen Zuständigkeitsbereich es geboren ist, innerhalb einer Woche angezeigt werden. Das Standesamt beurkundet die Geburt im Geburtenregister. Mit den Daten aus dem Geburtenregister stellt das Standesamt die Geburtsurkunde für das Kind aus.” Dadurch angeblich begründete Eigentumsrechte werden nicht angeführt.

Inobhutnahme durch das Jugendamt nur unter sehr engen Voraussetzungen

Dagmar Felix, Professorin für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Sozialrecht an der Universität Hamburg, schrieb AFP am 28. August 2023 in Bezug auf die Aussagen im geteilten Video: “Das ist so wirr, dass man dazu nichts sagen kann.” Sie verwies auf die relevante Bestimmung im achten Buch des deutschen Sozialgesetzbuchs (hier archiviert) zur Inobhutnahme des Jugendamtes von Kindern und Jugendlichen. Bei gefährdeten Kindern ist das tatsächlich auch gegen den Willen der Eltern möglich. Es ist allerdings nur zulässig, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen besteht. Gleichzeitig geht das nur, wenn Eltern oder andere Obsorgeberechtigte nicht widersprechen oder eine gerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, so das Gesetz.

Laut einer Sprecherin des BMFSFJ handle es sich hierbei um eine “der invasivsten sozialpädagogischen Interventionen” der Kinder- und Jugendhilfe, die nur unter Erfüllung “sehr enger gesetzlicher Voraussetzungen” zulässig sei. Das Kindeswohl stehe in jedem Fall im Vordergrund. 

Weitere Falschbehauptungen in “Reichsbürger-Sprache”

In dem Video wird zudem behauptet: “Aber im Grunde genommen ist das in Deutschland so, dass wir seit 2005 und 2007 alle Städte als Unternehmen organisiert haben.” Außerdem habe man nach zehn Jahren – ab wann wird nicht definiert – die deutsche Staatsangehörigkeit verloren und sei nur mehr einer Firma zugehörig.

Steffen Augsberg schrieb AFP diesbezüglich: “Städte sind auch nicht als Unternehmen organisiert, sondern die Kommunen sind sogenannte (Territorial-)Körperschaften des öffentlichen Rechts. Als solche können sie zwar auch geschäftlich tätig sein; ihr Hauptzweck liegt aber in der Umsetzung/Verwirklichung demokratisch gesetzter Ziele.” Außerdem: “Mit der Staatsangehörigkeit, die auf nationaler Ebene geregelt wird, hat das nichts zu tun; hier scheint mir schlicht eine Verwechslung vorzuliegen zwischen der Dauer der Gültigkeit eines Personalausweises und der Staatsangehörigkeit selbst.” Diese bleibe auch dann bestehen, wenn das entsprechende Dokument nicht mehr aktuell sei.

Eine Sprecherin des BMJ führte gegenüber AFP aus: “Bei den Ausführungen zur Organisation von Städten als Unternehmen handelt es sich um ‘Reichsbürger-Sprache’.” Im Übrigen würden keine rechtlichen Regelungen existieren, nach denen die deutsche Staatsangehörigkeit nach einem Zeitablauf von zehn Jahren grundlos ende. Das internationale Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 beinhaltet zudem Richtlinien zur Vermeidung von Staatenlosigkeit und zum Schutz vor einem Verlust der Staatsbürgerschaft. Das Übereinkommen beinhaltet das Verbot ihrer Entziehung in Fällen, in denen die Betroffenen anderenfalls staatenlos würden. Des Weiteren unterstreicht die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948, dass jeder das Recht auf eine Staatsangehörigkeit hat. Diese darf nicht willkürlich entzogen werden.

Auf der Website des BMI (hier archiviert) zu diesem Thema heißt es ebenfalls nur, dass ein Personalausweis zehn Jahre gültig ist. Regelungen zum Verlust der Staatsangehörigkeit nach zehn Jahren finden sich auf der BMI-Website (hier archiviert) ebenso wenig wie im einschlägigen deutschen Staatsangehörigkeitsgesetz (Link hier archiviert).

Fazit: Online wird fälschlich behauptet, dass Kinder ihren Eltern aufgrund der Unterzeichung der Geburtsurkunde entzogen werden könnten. Fachleute bestätigten gegenüber AFP, dass eine Trennung von Eltern und Kind nur als letztes Mittel per Gesetz erlaubt sei. Diese Maßnahme ist stets an das Kindeswohl geknüpft. Rechtlich gesehen gehört ein Kind weder den Eltern noch dem Staat.

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Ursprünglich hier veröffentlicht.