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Dieses Buch wird nicht verpflichtend an allen deutschen Schulen verwendet

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Author(s): Eva WACKENREUTHER / Marin LEFEVRE / AFP Österreich

Ein Foto, das Illustrationen in einem Kinderbuch zeigt, hat in den sozialen Medien weite Verbreitung gefunden. Viele Menschen glauben, dass es sich bei dem Buch um ein Lehrbuch für deutsche Schulkinder handelt. Das ist irreführend: Das Buch ist zwar echt, aber von AFP kontaktierte Vertreter der deutschen Bundesländer, sagten, dass es auf keiner Liste von obligatorischen oder empfohlenen Schulbüchern für Schulen stehe. Sie wiesen auch darauf hin, dass in vielen Bundesländern die Lehrer ihre Lehrmittel frei wählen können, solange sie die Empfehlungen des Bundes und die deutschen Gesetze einhalten.

Die Doppelseite, die in den sozialen Medien geteilt wurde, zeigt mehrere Paare in einer intimen Beziehung. “Das ist ein neues Schulbuch für Grundschüler!”, heißt es dazu auf Facebook und Twitter. Zehntausende sahen die Behauptung auf Telegram.

Die Behauptung kursierte auch auf Französisch und Polnisch. AFP hat die Behauptung in diesen Sprachen hier und hier überprüft.

Twitter-Screenshot der Behauptung: 30. Juni 2023

Obwohl dieses Kinderbuch existiert und von einem deutschen Verlag herausgegeben wurde, handelt es sich nicht um ein Schulbuch, wie der Verlag und die Schulbehörden von 15 deutschen Bundesländern auf Anfrage von AFP erklärten. Das Bundesland Hamburg antwortete nicht auf die Fragen von AFP, aber das Buch wird in seinen Richtlinien zur Sexualerziehung nicht erwähnt.

Ein Bilderbuch über “Vielfalt”

Bei dem Buch mit dem Titel “Von wegen Bienchen und Blümchen!” handelt es sich nicht um ein offizielles Schulbuch, sondern “um ein Sachbilderbuch, das für Kinder ab fünf Jahren empfohlen wird und neben kindgerechten Sachtexten auch Tipps für Eltern und Fachleute enthält”, wie Mareike Kreß, verlegerische Geschäftsführerin von Michael Fischer Editions, dem Verlag hinter dem Buch, am 2. Juni gegenüber AFP erklärte. Das Ende März 2021 erschienene Buch ist von dem Sexualtherapeuten Carsten Müller und der Autorin Sarah Siegl geschrieben und von der Künstlerin Emily Claire Völker illustriert.

“Das Buch zeigt die Vielfalt unserer Gesellschaft und sensibilisiert dafür, jedem Menschen mit Offenheit, Toleranz und Respekt entgegenzutreten – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder klassischen Rollenbildern. Es soll Kindern Selbstvertrauen, Körperwissen und ein positives Selbstbild vermitteln und sie darin bestärken, dass sie selbst darüber bestimmen können, wie sie sich beispielsweise gerne kleiden oder ob und zu wem sie Distanz oder Nähe möchten”, erklärte Kreß.

Das Buch spricht zwar über Geschlechterfluidität, gibt den Kindern aber keine “klaren Anweisungen” zu diesem Thema, so Kreß. “Das Buch erwähnt Geschlechterfluidität, ermutigt aber nicht dazu, diese zu praktizieren.”

Rahmenbedingungen für Sexualerziehung

Obwohl das Buch für Eltern und Erziehungsberechtigte gedacht ist, die mit Kindern über Sexualerziehung sprechen wollen, gibt es keine Hinweise darauf, dass es von den deutschen Bundesländern als Schulbuch verwendet wird, wie die von AFP kontaktierten Schulbehörden bestätigten.

In Deutschland ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) vom Staat beauftragt, nationale Maßnahmen zur Sexualerziehung und Familienplanung zu entwickeln und zu verbreiten. Auf Bundesebene gibt es Rahmenprogramme, Gesetze und Richtlinien, die auf der Website (hier archiviert) des Lesben- und Schwulenverbands Deutschland (LSVD) aufgeführt sind. In einigen Bundesländern gibt es auch Schulgesetze, die einen rechtlichen Rahmen für diesen Unterricht bieten.

Die Zuständigkeit für die Sexualerziehung liegt bei den Bildungsministerien der einzelnen Bundesländer, von denen einige Listen mit empfohlenen Schulbüchern erstellt haben, während andere die Auswahl den Lehrern überlassen.

Auf Anfrage von AFP erklärten fünfzehn deutsche Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen), dass das Buch in keiner der Listen der verpflichtenden oder genehmigten Materialien für die Sexual- und Familienerziehung enthalten sei, sofern es solche gibt. Auch in den Richtlinien Hamburgs, das die Auswahl der Lehrmittel den Lehrkräften überlässt, ist das Buch nicht enthalten.

Spezifische Regeln für jedes deutsche Bundesland

Einige der Bundesländer haben irgendeine Form von Auswahlverfahren für Schulbücher (zum Beispiel Baden-Württemberg oder Sachsen-Anhalt), in anderen können Schulen selbst die Schulbücher auswählen (zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern oder das Saarland). Details dazu gehen aus dieser im Januar 2023 aktualisierten Liste (hier archiviert) der Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) hervor. Alle Länder bis auf Hamburg bestätigten gegenüber AFP, dass “Von wegen Bienchen und Blümchen!” nicht verpflichtend unterrichtet wird. Keines erwähnte eine Empfehlung des Buches.

Sie wiesen auch darauf hin, dass die von den Schulen ausgewählten Materialien den gesetzlichen Vorgaben sowie den in Deutschland geltenden Bildungs- und Verfassungsgrundsätzen entsprechen müssen.

“Die Sexualerziehung hat die vom Grundgesetz und von der Verfassung für Rheinland-Pfalz vorgegebenen Wertentscheidungen für Ehe und Familie zu achten und dem Gebot der Toleranz Rechnung zu tragen”, schrieb beispielsweise Ulrich Gerecke, Sprecher des rheinland-pfälzischen Bildungsministeriums, mit Verweis auf das dortige Schulgesetz am 26. Mai gegenüber AFP.

Lernmittel “müssen einseitige ideologische Festlegungen vermeiden, Multiperspektivität wahren, eine gleichwertige und partnerschaftliche Lebensgestaltung der Geschlechter unter Berücksichtigung der Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Identitäten zum Ziel haben, dürfen keine versteckte oder offene Werbung für Unternehmen enthalten, müssen Beeinflussung und Manipulation durch Unternehmen und Interessensgruppen vermeiden sowie mit den Lehrplänen, den Bildungsstandards und schulart-, schulform- und schulstufenspezifischen Vorgaben übereinstimmen.”

In einigen Bundesländern, wie zum Beispiel in Hessen, dürfen die Lehrenden neben den Pflichtbüchern auch “sonstige Lehrwerke” verwenden. Das Buch “Von wegen Bienchen und Blümchen!” gehört nicht dazu, aber “es ist nicht ausgeschlossen, dass das vorgenannte Buch auf diesem Weg eingesetzt wird”, sagte Philipp Bender, Sprecher des hessischen Kultusministeriums, am 25. Mai gegenüber AFP und fügte hinzu, dass seine Behörde “keine Rückmeldungen oder Beschwerden in dieser Hinsicht erhalten hat”.

Was die Art der Sexual- und Familienerziehung für deutsche Schüler betrifft, so erklärten alle von AFP kontaktierten Bundesländer, dass die Vielfalt der sexuellen Orientierungen und Geschlechter integraler Bestandteil des Unterrichts sei. “Im Unterricht soll ‘die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtszugehörigkeit, die Begegnung mit dem anderen und eigenen Geschlecht sowie das Verhältnis der Geschlechter zu- und miteinander’ thematisiert werden”, sagte Andreas Tabbert, Sprecher des Kultusministeriums, am 25. Mai gegenüber AFP. “Nicht zuletzt sollen ‘vor dem Hintergrund der verfassungsmäßigen Bedeutung von Ehe und Familie unterschiedliche Lebensformen und sexuelle Orientierungen (Hetero-, Homo-, Bisexualität) vorurteilsfrei von der Lehrkraft angesprochen’ werden”, fügte er hinzu.

“Die schulische Sexualerziehung unterstützt bei der Entwicklung der eigenen sexuellen und geschlechtlichen Identität, befähigt zu einem selbstbewussten, achtsamen Umgang mit der eigenen Sexualität und fördert ein respektvolles, diskriminierungs- und machtkritisches und gewaltfreies Miteinander”, heißt es auf der Internetseite des Landes Berlin (archivierte Version hier).

Mehrere Beamtinnen und Beamte betonten zudem, dass diese Aufklärung altersgerecht erfolge. Die Bildungsministerin von Mecklenburg-Vorpommern schrieb dazu in Bezug auf das dortige Schulgesetz: “Ziel der Sexualerziehung ist es, die Schülerinnen und Schüler altersgemäß mit den biologischen, ethischen, kulturellen und sozialen Tatsachen und Bezügen der Geschlechtlichkeit des Menschen vertraut zu machen.”

 Diese Anliegen spiegeln sich auch auf Bundesebene wider, etwa auf der Website Loveline.de (hier archiviert), auf die die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verweist und an die Jugendliche ihre Fragen richten können. Einige Antworten auf diese Fragen (archivierte Version hier) erwähnen die Existenz eines “dritten Geschlechts”, das in Deutschland seit 2018 auf Geburtsurkunden gesetzlich anerkannt ist.

Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes wurde das Land eines der ersten Länder Europas, das intersexuelle Menschen anerkennt – also von Menschen, deren körperliche oder biologische Merkmale wie sexuelle Anatomie, Genitalien, hormonelle Funktion oder Chromosomenmuster nicht den klassischen Definitionen von Männlichkeit und Weiblichkeit entsprechen, so die Vereinten Nationen.

 Hasstiraden

“Das Buch hat von Beginn an viel positive Resonanz hervorgerufen, sagt Mareike Kreß, verlegerische Geschäftsführerin bei Edition Michael Fischer. “Natürlich hat der Autor als ausgebildeter Experte darauf geachtet, sensibel aufzuklären und nicht zu überfordern”, fügte sie hinzu.

Dennoch gab sie an, dass das Verlagsteams über die aggressive Wortwahl einiger Kommentare “erschrocken und schockiert” gewesen sei. Das Buch sei insbesondere auf der Verkaufsplattform Amazon als “Hirnwäsche” oder “Regenbogenunsinn” bezeichneten und ein Verbot solcher Bücher gefordert worden.

“Das erinnert an düstere Zeiten in Deutschland, die sich keiner wieder wünscht beziehungsweise wünschen sollte”, schrieb Kreß. “Umso wichtiger ist es, ein Signal für Respekt, Freiheit und Toleranz zu setzen und sich klar gegen Hass zu positionieren.”

Fazit: Das Buch “Von wegen Bienchen und Blümchen! ” gibt es wirklich. Es ist ein Bilderbuch, das Eltern und Erziehungsberechtigten bei der Sexualerziehung helfen soll. Dafür, dass das Buch Teil des deutschen Lehrplans ist, gibt es allerdings keine Hinweise.

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Ursprünglich hier veröffentlicht.