Seit anderthalb Jahren sind bestimmte Insekten in der EU als Lebensmittel zugelassen. Kürzlich kamen zwei weitere Arten hinzu. Postings in sozialen Medien behaupten, das in Insekten enthaltene Chitin verursache Morbus Gaucher und stünde im Zusammenhang mit anderen Krankheiten wie Sarkoidose und Asthma. Laut Experten ist der Verzehr von Insekten für Menschen ungefährlich und hat keine Auswirkungen auf die genannten Krankheiten.
Hunderte Nutzerinnen und Nutzer haben seit Ende Januar einen Beitrag in sozialen Netzwerken geteilt, demzufolge der Verzehr von Chitin für Menschen gesundheitsschädlich sei. Der Beitrag wurde hundertfach auf Facebook (hier, hier) geteilt und auch auf Twitter und Telegram verbreitet.
Die Behauptung: Das Beitragsbild zeigt einen Menschen, der eine scheinbar gegarte Heuschrecke zwischen den Zähnen hält. Darüber steht in Großbuchstaben: “Dies verursacht Morbus-Gaucher-Syndrom.” Zu Beginn des aktuell geteilten Postings heißt es: “Das ist der wahre Grund, warum die Eliten wollen, dass wir Insekten fressen.” Das in den Panzern der Tiere enthaltene Chitin sei demnach schädlich für den menschlichen Körper.
Chitin werde demnach “in Verbindung mit Erbkrankheiten(!) gebracht (Morbus Gaucher und Sarkoidose). Ebenso sind bei schwerem Asthma im Lungengewebe erhöhte Chitinase-Werte nachweisbar.” Durch den Verzehr von Insekten, heißt es weiter, erhöhe sich das Risiko, “an diversen Krankheiten zu sterben, aber das ist ja so gewollt!!”.
In sozialen Netzwerken kursieren immer wieder Falschinformationen zum Verzehr von Insekten. So verbreitete sich in der Vergangenheit das Gerücht, globale Eliten wollten Menschen dazu zwingen, Insekten zu essen. Das Weltwirtschaftsforum (WEF), regelmäßiges Ziel von Verschwörungserzählungen, hatte im Februar 2022 den Verzehr von Insekten als ein Mittel im Kampf gegen den Klimawandel bezeichnet. Die Produktion von Insekten verbraucht deutlich weniger Ressourcen und erzeugt weniger Treibhausgase als die Herstellung anderer tierischer Lebensmittel wie Fleisch. AFP überprüfte in der Vergangenheit schon einmal Behauptungen, wonach Chitin Krankheiten verursache und Insekten für Säugetiere grundsätzlich nicht genießbar seien.
In den aktuell geteilten Postings werden diese Behauptungen miteinander kombiniert. Die Beiträge verbreiteten sich kurz vor der offiziellen Zulassung zweier Insektenarten als Lebensmittel durch die Europäische Kommission Ende Januar 2023. In der Europäischen Union dürfen einzelne Insekten bereits seit anderthalb Jahren als Lebensmittel verarbeitet werden. Dazu gehören die Larven des Mehlkäfers, Wanderheuschrecken und Hausgrillen. Neu zugelassen wurden Pulver aus Hausgrillen und die Larven des Getreideschimmelkäfers.
Morbus Gaucher ist angeboren
Chitin ist einer der Hauptbestandteile im Panzer von Insekten. Der Stoff ist ein sogenanntes Polysaccharid, auch Vielfachzucker oder polymerer Zucker genannt. Der Stoff kommt häufig in der Natur vor und findet sich darüber hinaus in Krustentieren, Pilzen, Bakterien, Hefen und Algen. Nach der Cellulose, die vor allem in Pflanzen zu finden ist, ist Chitin das zweithäufigste Polysaccharid, das in der Natur vorkommt. Es kann als Düngemittel, Lebensmittelzusatzstoff und für medizinische Zwecke verwendet werden.
Nach Auffassung von Experten gibt es keine Belege für Gesundheitsschäden durch den Verzehr von Chitin. Die in den Postings konkret erwähnten Krankheiten – Morbus Gaucher, Sarkoidose und Asthma – werden nicht durch die Aufnahme von Chitin ausgelöst und auch nicht verstärkt.
Morbus Gaucher ist eine angeborene Stoffwechselkrankheit, die durch einen genetisch bedingten Mangel des Enzyms Glukozerebrosidase verursacht wird. Durch den Mangel können bestimmte Fette im Körper nicht ausreichend abgebaut werden und lagern sich in Milz, Leber, Nieren, Lungen, Gehirn und Knochenmark an. In der Folge vergrößern sich Milz und Leber, die Blutbildung im Knochenmark wird gestört, was zu einer verringerten Zahl von Blutplättchen und roten Blutkörperchen führt.
Die Krankheitsverläufe von Morbus Gaucher können unterschiedlich ausgeprägt sein und eine Vielzahl von Symptomen hervorrufen. Nach Angaben der Gaucher Gesellschaft Deutschland (GGD) reicht das Spektrum von keinen Beschwerden bis hin zu schwerer Behinderung und Tod. Typische Symptome sind neben einer Vergrößerung von Leber und Milz Knochen- und Gelenkdefekte, Leberstörungen, neurologische Komplikationen, Anschwellen der Lymphknoten, eine bräunliche Hautfärbung, Blutarmut, und gelbe Fettablagerungen im Auge.
Erbkrankheiten werden nicht durch Chitin ausgelöst
In den aktuell geteilten Postings wird Morbus Gaucher richtigerweise als Erbkrankheit bezeichnet. Erbkrankheiten werden jedoch nicht durch falsche Ernährung – auch nicht durch den Verzehr von Insekten – verursacht, sondern gehen auf mutierte Gene oder Chromosomen zurück.
Theodor Dingermann ist Molekularbiologe, emeritierter Professor für pharmazeutische Biologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Mitglied der Chefredaktion der “Pharmazeutischen Zeitung”. Dingermann hat zu Morbus Gaucher und dessen Behandlung geforscht. Im Gespräch mit AFP sagte er am 26. Januar 2023: “Morbus Gaucher ist eine Erbkrankheit und gehört zur Gruppe der lysosomalen Speicherkrankheiten. Diese Krankheiten werden durch einen Gendefekt verursacht, der dazu führt, dass ein entscheidendes Enzym in den Lysosomen fehlt.” Lysosomen sind Zellbestandteile, in denen bestimmte Enzyme für den Stoffwechsel der Zelle sorgen. Sie sind für den Abbau von Proteinen, Fetten und Nukleinsäuren zuständig.
Das bestätigte Hajo Haase, Chemiker, Immunologe und Professor für Lebensmittelchemie und Toxikologie an der Technischen Universität (TU) Berlin, am 30. Januar 2023 im Gespräch mit AFP: “Erbkrankheit bedeutet, dass es eine genetische Ursache gibt. Bei Morbus Gaucher fehlt ein bestimmtes Enzym. Diese Ursache ist angeboren. Es ist vollkommen egal, ob man dann Insekten isst.”
Sarkoidose wiederum gilt nicht als Erbkrankheit, wie in den aktuell geteilten Postings behauptet wird, auch wenn eine genetische Veranlagung als Ursache diskutiert wird. Die genauen Ursachen für Sarkoidose sind bislang ungeklärt. Die Krankheit, die auch als Morbus Boeck bezeichnet wird, geht nach bisherigen Erkenntnissen auf eine Überreaktion des Immunsystems zurück, in deren Folge Entzündungen im gesamten Körper auftreten. Es bilden sich sogenannte “Granulome”, Knötchen aus entzündetem Gewebe. Häufig sind Lunge und Lymphknoten betroffen.
Chitinase hilft bei der Diagnose von Krankheiten
Es gibt keine Belege dafür, dass Chitin in einem Zusammenhang mit Morbus Gaucher, Sarkoidose oder anderen Erkrankungen steht. In den aktuell geteilten Postings wird behauptet, bei schwerem Asthma seien erhöhte Chitinase-Werte im Lungengewebe nachweisbar. Chitinasen sind Enzyme, die für den Abbau von Chitin verantwortlich sind. Sie dienen zur Abwehr chitinhaltiger Krankheitserreger wie Pilzen und Parasiten wie der Molekularbiologe Andreas Vilcinskas am 27. Januar 2023 gegenüber AFP erklärte.
Vilcinskas ist Direktor des Instituts für Insektenbiotechnologie an der Universität Gießen und Leiter der Projektgruppe Bioressourcen des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie. “Bei bestimmten Erkrankungen sind die Chitinasewerte im Körper messbar erhöht”, sagte er. Auch für die in den Postings genannten Krankheiten Morbus Gaucher, Sarkoidose und Asthma ist belegt, dass der Chitinasespiegel der Patientinnen und Patienten in Folge der Krankheit ansteigt.
Ein hoher Chitinasewert ist jedoch nicht Ursache der genannten Krankheiten, sondern vielmehr eine Begleiterscheinung. Die vermehrte Ausschüttung von Chitinase dient im Zusammenhang mit Morbus Gaucher, Asthma und anderen Krankheiten als sogenannter Biomarker, als Hilfsmittel, um eine bestimmte Erkrankung diagnostizieren zu können, erklärte Theodor Dingermann. “Hohe Chitinasewerte im Blut korrelieren mit einer hohen Krankheitsaktivität bei Morbus Gaucher. Je schlimmer die Krankheit verläuft, desto höher ist die Aktivität der Chitinase. Das ist ein willkommener diagnostischer Marker, der mit der Krankheit selbst aber gar nichts zu tun hat.”
Der genaue Zusammenhang zwischen Chitinase und bestimmten Krankheiten sei bislang noch nicht bekannt, sagte Theodor Dingermann. Wahrscheinlich steige die Aktivität der Chitinase infolge des zellulären Stresses durch die eigentliche Erkrankung an. Als Reaktion werde die Enzymausschüttung im Körper gesteigert, was sich nachher als Biomarker im Blut von Patientinnen und Patienten ablesen lasse. Sicher sei jedoch: Der Anstieg von Chitianse ist eine Folge der Krankheit, nicht deren Auslöser, wie es in den Postings dargestellt wird. “Dafür gibt es null Evidenz”, sagte Dingermann.
Ähnlich äußerte sich Andreas Vilcinskas: “Die Ursache liegt vermutlich in einer fehlgeleiteten Reaktion der Immunzellen.” Um ein eigenes Krankheitssymptom handele es sich dabei jedoch nicht. “Ein erhöhter Chitinasewert selbst ist nicht schädlich”, sagte er.
Verzehr von Chitin hat keinen Einfluss auf Chitinasewerte
Ein hoher Chitinasewert im Körper hat keinen Einfluss auf Grunderkrankungen wie Morbus Gaucher, Sarkoidose oder Asthma, sondern ist eine Begleiterscheinung, die als diagnostischer Marker genutzt wird. Der Verzehr von Insekten, die Chitin enthalten, hat wiederum keinen Einfluss auf den Chitinasespiegel im Körper, wie die von AFP befragten Experten erklärten. Chitin ist für den menschlichen Körper nicht vollständig verdaulich, wie AFP bereits in diesem Faktencheck vom September 2022 dargelegt hat. Chitinasen können zwar chitinhaltige Erreger wie Bakterien oder Pilze unschädlich machen, dennoch fehlt es Menschen an einem Enzym zum vollständigen Aufspalten des Stoffes.
“Wir können Chitin nicht verdauen, es ist für uns ein Ballaststoff”, sagte Hajo Haase von der TU Berlin. Chitin komme auch in den Zellwänden von Erregern wie Bakterien und Hefepilzen vor. Die Chitinasen im menschlichen Körper seien wahrscheinlich gegen bakterielles oder Hefechitin gerichtet. “Dass das Immunsystem bei entzündlichen Erkrankungen wie Asthma oder Sarkoidose ein bestimmtes Enzym hoch reguliert, muss nichts mit Insektenchitin zu tun haben.”
“Chitin ist ein Ballaststoff und gelangt gar nicht in den Organismus. Es ist nicht bioverfügbar, wie wir sagen, und wird wie Zellulose mit dem Stuhl wieder ausgeschieden”, sagte Theodor Dingermann. Es sei daher ausgeschlossen, dass die Chitinasewerte im Blut durch den Verzehr von Insekten ansteigen. Gleichzeitig könnten Menschen mit krankheitsbedingt hohen Chitinasewerten Chitin deshalb nicht etwa besser verdauen.
Wie Zellulose gehört Chitin zu den nicht-abbaubaren Ballaststoffen, die – auch wenn sie unverdaulich sind – eine wichtige Rolle für die Gesundheit des Verdauungssystems spielen: “Unser Darm extrahiert die Nährstoffe aus den Pflanzen und gibt die unverdaulichen Ballaststoffe weiter, die unseren Verdauungstrakt in Bewegung halten und für einen gesunden Stuhlgang sorgen. Ein Mangel an unlöslichen Ballaststoffen kann zum Beispiel zu Verstopfung führen”, sagte die Biologin Mareike Janiak, die zur Entwicklung von Chitin verarbeitenden Enzymen bei Säugetieren geforscht hat, am 8. August 2022 gegenüber AFP.
Insekten werden vor der Zulassung eingehend geprüft
Lebensmittel, die Insekten enthalten, stellen keine Gefahr für die Gesundheit der Konsumentinnen und Konsumenten dar. Insekten gelten in der EU als sogenannte “neuartige Lebensmittel”. Vor Ihrer Zulassung als Lebensmittel werden sie von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) auf ihre Sicherheit und Verträglichkeit geprüft. Dabei werden unter anderem die Inhaltsstoffe, aber auch mögliche Verunreinigungen und mikrobiologische Aspekte betrachtet. Bereits 2010 bezeichnete die Efsa in einem Bericht Chitin als Nahrungsergänzungsmittel als sichere Lebensmittelzutat.
Ein Sprecher der Efsa erklärte am 27. Januar 2023 gegenüber AFP: “Die derzeit zugelassenen Insekten sind für den menschlichen Verzehr sicher. Neuartige Lebensmittel wie Insekten können nur zugelassen werden, wenn sie kein Risiko für die menschliche Gesundheit darstellen.” Jedes Mal, wenn ein Lebensmittelhersteller eine neue Insektenart in seinen Produkten verwenden möchte oder wenn sich die Verwendungszwecke oder die Art der Erzeugung ändern, müsse ein neuer Antrag gestellt und eine neue Sicherheitsbewertung durchgeführt werden.
Auch das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hält Lebensmittel aus Insekten für sicher. Am 1. Februar 2023 schrieb eine Sprecherin der Behörde auf AFP-Anfrage: “Beim Verzehr von in der EU zugelassenen Insekten sind daher grundsätzlich keine gesundheitsschädlichen Wirkungen zu erwarten.” Das BfR wies darauf hin, dass chitinhaltige Insekten in zahlreichen außereuropäischen Regionen auf der ganzen Welt verzehrt werden, ohne dass dadurch gesundheitsschädliche Effekte bekannt wären. Chitin komme zudem in Speisepilzen sowie in den Panzern von Krustentieren vor, die auch in EU-Ländern auf dem Speiseplan stehen. “Auch hier sind keine konkreten Gesundheitsgefahren bekannt.”
Auch wenn Lebensmittel aus Insekten weitgehend ungefährlich sind, können bestimmte Arten bei Menschen, die allergisch gegen Schalentiere und Hausstaubmilben sind, allergische Reaktionen auslösen. Lebensmittel, die die Larven des Getreideschimmelkäfers enthalten, müssen daher mit einem entsprechenden Warnhinweis versehen werden. Der Stoff, der die allergische Reaktion hervorruft, ist allerdings nicht Chitin, sondern das Muskelprotein Tropomyosin.
Milliarden Menschen essen täglich Insekten
Insekten sind schon seit Tausenden von Jahren Teil der menschlichen Ernährung und werden noch immer von Milliarden von Menschen in verschiedenen Regionen weltweit verzehrt.
Ein Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) aus dem Jahr 2021 bezeichnet Insekten als “aussichtsreiches Mittel zur Bewältigung der Ernährungsunsicherheit durch eine steigende Weltbevölkerung ohne gleichzeitig die Umwelt zu schädigen.” Der Bericht betont jedoch auch, dass bei der Erzeugung und dem Verzehr von essbaren Insekten Lebensmittelsicherheit gewährleistet werden muss, um allergene, biologische, chemische oder physikalische Gefahren auszuschließen.
Fazit: Der Verzehr von chitinhaltigen Insekten, die in der EU als Lebensmittel zugelassen sind, ist ungefährlich und verursacht keine Krankheiten. Chitin ist weitgehend unverdaulich und wird als Ballaststoff ausgeschieden. Ein menschliches Enzym, das zum Abbau chitinhaltiger Erreger wie Bakterien und Pilze dient, wird auch bei bestimmten Krankheiten verstärkt ausgeschüttet. Ein Zusammenhang zum Verzehr von Insekten besteht dabei jedoch nicht.