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Nein, das Europäische Parlament hat das Vetorecht in der EU nicht abgeschafft

Nein, das Europäische Parlament hat das Vetorecht in der EU nicht abgeschafft - Featured image

Author(s): Alexis ORSINI / Katharina ZWINS / AFP Frankreich

Auch im Vorfeld der Europawahlen im Juni 2024 kursiert Desinformation über die EU in Brüssel, deren Machtverhältnisse und die Gesetzgebungsverfahren der 27 – gleichberechtigten – Mitgliedstaaten. Ein Beispiel ist das sogenannte Vetorecht – der Mechanismus, mit dem zum Beispiel selbst ein verhältnismäßig kleiner Mitgliedstaat innerhalb der Union gegen Vorschläge wirtschaftlich stärkerer Nachbarn stimmen und diese verhindern kann. Seit Ende 2023 wird eine Falschbehauptung verbreitet, wonach das Europäische Parlament dieses “Vetorecht” abgeschafft habe. Die Aussage bezieht sich auf eine Ende November 2023 vom Europäischen Parlament verabschiedete Entschließung, die Zahl der Bereiche, für die eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung genügt, zu erweitern. Damit wäre eine Blockade von Entscheidungen durch ein einzelnes Land nicht mehr möglich. Eine solche Resolution ist jedoch nicht bindend, wie mehrere Fachleute gegenüber AFP erklärten. Am Abstimmungsverfahren in der EU hat sich daher bisher nichts geändert. Hierfür bedürfte es einer Änderung der EU-Verträge, die einstimmig von den Mitgliedstaaten beschlossen werden müsste. Das Europäische Parlament kann eine solche Änderung nicht einfach alleine bestimmen.

“291 Abgeordnete stimmten für eine Änderung der Europäischen Verträge, um das Veto-Recht der Mitgliedstaaten abzuschaffen und den EU-Institutionen mehr Macht zuzuschanzen”, schrieb ein User auf Facebook. Die Aussage kursiert seit Ende November 2023 in sozialen Medien. “Die europäischen Gesetzgeber stimmten (…) Plänen zu, das nationale Vetorecht für EU-Mitgliedstaaten aufzuheben”, heißt es etwa in einem anderen Beitrag.

Auch auf anderen Plattformen wie Telegram wird die Behauptung vielfach verbreitet. Auf Französisch wurde die Aussage ebenfalls geteilt – unter anderem auch von französischen Politikern.

Häufig teilen Nutzerinnen und Nutzer zudem Artikel des österreichischen Online-Senders “AUF1” und des österreichischen Blogs “tkp” zu diesem Thema. Diese haben bereits in der Vergangenheit mehrfach Falschinformationen verbreitet, die AFP etwa hier oder hier überprüft hat.

Facebook-Screenshot der Behauptung: 15. Januar 2024

Die nächste Wahl zum Europäischen Parlament findet im Juni 2024 statt. Immer wieder ist die Europäische Union – auch im Vorfeld der Wahlen – Gegenstand von Falschbehauptungen in sozialen Medien. AFP hat diese in der Vergangenheit etwa hier überprüft.

Die aktuell geteilten Veröffentlichungen beziehen sich auf eine Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22. November 2023 “zu Entwürfen des Europäischen Parlaments zur Änderung der Verträge” (hier archiviert), die von der EU-Institution angenommen wurde. Dieser nicht bindende Text ändert in seiner jetzigen Form jedoch nichts an der derzeitigen Abstimmungspraxis der EU-Mitgliedstaaten, wie mehrere Fachleute für Europarecht gegenüber AFP erklärten.

“Die Behauptung ist aus mehreren Gründen, die mit der Natur des vom Europäischen Parlament verabschiedeten Rechtsakts, dem für die Änderung der Verträge erforderlichen Verfahren und der Realität der Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union zusammenhängen, falsch”, erklärte etwa François-Vivien Guiot, Dozent am Collège d’Études Européennes et Internationales der französischen Universität Pau am 29. November 2023 gegenüber AFP.

“Das Europäische Parlament hat eine Entschließung verabschiedet. Aber es ist ein Text, der keine Rechtskraft hat. Es ist einfach eine Meinung, in der zum Ausdruck gebracht wird, wie es die Zukunft der europäischen Institutionen sieht”, erläuterte Christine Verger, Vizepräsidentin des europäischen Forschungsinstituts Jacques Delors, am 28. November 2023 gegenüber AFP.

In der Resolution wird vorgeschlagen, die Anzahl der Bereiche zu erweitern, in denen gemeinschaftliche Entscheidungen der Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit statt einstimmig getroffen werden sollen – was in sozialen Medien mitunter als eine effektive Abschaffung des “Vetorechts” der einzelnen Staaten dargestellt wird.

 

Abgeordnete bei einer Abstimmungssitzung im Europäischen Parlament in Straßburg am 22. November 2023 – FREDERICK FLORIN / AFP

Abstimmung der Mitgliedstaaten über EU-Maßnahmen

Der Rat der Europäischen Union besteht aus den Ministerinnen und Ministern der Mitgliedstaaten, die sich mehrmals im Jahr in ihren jeweiligen Politikbereichen treffen, um die Gesetzesentwürfe der Europäischen Kommission anzunehmen, abzulehnen oder zu ändern. Der Rat der EU vertritt die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und übt die gesetzgebende Rolle der EU mit dem Europäischen Parlament (das die Bürgerinnen und Bürger vertritt) aus.

Je nach Bereich stimmt der Rat der Europäischen Union in den überwiegenden Fällen entweder mit qualifizierter Mehrheit oder einstimmig ab. Wie der Rat der Europäischen Union auf seiner Website ausführlich erläutert, betrifft die Einstimmigkeit eine begrenzte Anzahl von Angelegenheiten, die von den Mitgliedstaaten als “sensibel” betrachtet werden, wie die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Bürgerrechte, die EU-Mitgliedschaft oder EU-Finanzen. In diesen Bereichen kann bei fehlender Einstimmigkeit – also wenn nur einer der Mitgliedstaaten dagegen stimmt, wobei eine Stimmenthaltung nicht als “Gegenstimme” zählt – keine Entscheidung getroffen werden: Auf diese Art von “Vetorecht” beziehen sich die aktuell geteilten Behauptungen.

Der Rat der Europäischen Union stimmt – abgesehen von diesen wenigen konkreten Bereichen – bei rund 80 Prozent der EU-Gesetzgebung mit qualifizierter Mehrheit ab, die unter zwei Bedingungen erreicht wird: wenn 55 Prozent der Mitgliedstaaten, also 15 von 27, für den Vorschlag gestimmt haben und wenn dieser von Mitgliedstaaten unterstützt wird, die zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen.

Einstimmigkeitsprinzip ist umstritten

Die Idee, das Einstimmigkeitsprinzip in bestimmten Bereichen durch Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit (kurzfristig) zu ersetzen, wird von einigen Politikerinnen und Politikern mit der Hoffnung befürwortet, auf diese Weise politische Blockaden bei bestimmten Themen zu vermeiden und den Entscheidungsprozess der Mitgliedstaaten flüssiger zu gestalten. Das Argument einer größeren Effizienz der EU wurde beispielsweise vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Mai 2022 vorgebracht, als er die Möglichkeit einer “Verallgemeinerung der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit” erwähnte.

Befürworterinnen und Befürworter einer solchen Änderung sind der Meinung, dass dadurch die systematischen Blockaden, die durch die Einstimmigkeit ermöglicht werden, vermieden werden könnten. Dies ist etwa vor dem Hintergrund der wiederkehrenden Spannungen mit Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán zu sehen, die insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz, die Migrationspolitik oder die Rechte der LGBTQ-Gemeinschaft betreffen.

“Die Möglichkeit der Blockade Ungarns angesichts der Bereitschaft anderer Staaten, Russland zu sanktionieren, hat das Gefühl einer notwendigen Reform hervorgerufen. Die Ausweitung einer Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit in diesem Bereich kann zwar formal als Verlust einer Vetomacht verstanden werden – aber ist es aus demokratischer Sicht normal, dass Vertreter von 26 Staaten durch die Vertreter eines einzigen Staates am Handeln gehindert werden?”, analysierte François-Vivien Guiot. “In der Praxis wird ein einzelner Staat im Rat nämlich immer sehr stark unter Druck gesetzt, was ihn meistens dazu bringt, seine Position aufzugeben. Die Staaten verhandeln immer über mehrere Fragen gleichzeitig und es werden übergreifende Abwägungen getroffen. Es ist außerdem anzumerken, dass bei einer möglichen Abschaffung der Einstimmigkeit die Praxis dennoch dazu führt, dass die Staaten es vorziehen, einen Konsens zu finden, anstatt mit Gewalt vorzugehen”, fuhr er fort.

Im Gegensatz dazu verteidigen Befürworterinnen und Befürworter einer Beibehaltung des Einstimmigkeitsprinzips in den von diesem Abstimmungsmodus betroffenen Bereichen das Prinzip der Gleichheit, das dadurch zwischen jedem EU-Mitgliedstaat hergestellt würde – unabhängig von seinem demographischen Gewicht. Bei der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wird zum Teil die Bevölkerungszahl berücksichtigt.

Abgeordnete bei einer Abstimmungssitzung im Europäischen Parlament in Straßburg am 22. November 2023 – FREDERICK FLORIN / AFP

Entschließung vom 22. November 2023

Für Hélène Gaudin steht die am 22. November 2023 vom Europäischen Parlament verabschiedete Entschließung “für eine bestimmte Vision von Europa”, die von den Staaten unabhängiger sei und “in gewisser Weise eine föderalistischere Vision von Europa vertritt”. 

Die Entschließung schlägt in ihrem Abschnitt über Vorschläge für institutionelle Reformen vor, dass “die Zahl der Bereiche, in denen Maßnahmen im Wege der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit (BQM) und im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens beschlossen werden, erheblich erhöht wird”. Im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird in der Entschließung vorgeschlagen, dass “Beschlüsse über Sanktionen, Zwischenschritte im Erweiterungsprozess und andere außenpolitische Entscheidungen” mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden.

Vor allem aber plädiert die Resolution für eine Überarbeitung der EU-Verträge und fordert den Europäischen Rat – der sich aus den Regierungschefs der einzelnen Mitgliedstaaten zusammensetzt und die politischen Leitlinien und Prioritäten der EU festlegt (nicht zu verwechseln mit dem Rat der EU) – auf, einen Konvent zu diesem Thema einzuberufen.

Entschließung hat keine bindende Wirkung

Dieser Text ist jedoch nicht bindend, betonte François-Vivien Guiot: “Die verabschiedete Entschließung ist kein normativer Akt. Sie hat keine rechtliche Wirkung, sondern manifestiert eine politische Position des Organs. Mit dieser Resolution fordert das Europäische Parlament eine Überarbeitung der Verträge und schlägt Änderungen an den geltenden Verträgen vor.”

Hélène Gaudin stimmte zu: “Das Europäische Parlament hat lediglich vorgeschlagen, das Einstimmigkeitsprinzip abzuschaffen, also die qualifizierte Mehrheit zur Regel (…) zu machen.” Die Behauptungen in sozialen Medien liegen “sehr weitgehend in der Fantasie, denn es ist nur ein Vorschlag”.

 

Abgeordnete bei einer Abstimmungssitzung im Europäischen Parlament in Straßburg am 22. November 2023 – FREDERICK FLORIN / AFP

Schwerer Prozess der Überarbeitung der EU-Verträge

Damit die Vorschläge wirksam werden könnten, ist eine Änderung der EU-Verträge erforderlich. Hierbei handelt es sich um ein langes und kompliziertes Verfahren, das in Artikel 48 des Vertrags über die Europäische Union festgelegt ist (hier archiviert).

“Dieses ordentliche Änderungsverfahren beruht auf einem sehr schwerfälligen Prozess, bei dem die Staaten das letzte Wort haben”, bestätigte François-Vivien Guiot. Um angenommen zu werden, muss ein Entwurf zur Änderung der Verträge, der vom Europäischen Parlament, der Europäischen Kommission oder nationalen Regierungen vorgelegt wird, dem Europäischen Rat und den nationalen Parlamenten übermittelt werden. Dem Europäischen Rat steht es dann frei, diesen Entwurf abzulehnen oder die Initiative fortzusetzen.

Im zweiten Szenario muss er einen Konvent einberufen, in dem Vertreter des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission, der nationalen Parlamente und Regierungen zusammenkommen, um den Entwurf zu prüfen und zu ändern. Der Text wird dann einer Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vorgelegt, die sich auf die Änderungen des Vertrags einigen müssen. Die Regierungskonferenz muss die Änderungsvorschläge einvernehmlich annehmen: Es würde also für die Ablehnung des Entwurfs genügen, wenn ein einziger Staat dagegen wäre. Die Änderungen treten schließlich erst in Kraft, nachdem sie von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind.

Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten bei Vertragsänderung

Die Postings in sozialen Medien vergessen laut Christine Verger auf die “nationale Souveränität”, die für die Vornahme dieser Art von Änderungen gelte. “Es sind die Staaten, die entscheiden. Jedes Mal, wenn es eine institutionelle Änderung gibt, ist sie Gegenstand eines Vertrags, der von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet und von den Parlamenten aller Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. Es ist rechtlich und sogar politisch unmöglich, dass das Europäische Parlament in dieser Angelegenheit irgendetwas beschließt”, erläuterte sie weiter.

Für eine solche Änderung “müssen die Staaten auf allen Ebenen und einstimmig zustimmen”, meinte auch Hélène Gaudin. “Das ist der Schlüssel zur Tatsache, dass die Europäische Union kein Staat ist, denn die Staaten können immer blockieren: Im deutschen Recht sagt man, dass die Staaten die Herren der Verträge sind, weil sie entscheiden, ob sie diese annehmen wollen oder nicht.”

François-Vivien Guiot stimmte ebenfalls zu: “Die Umsetzung der vom Europäischen Parlament (in seiner Entschließung vom 22. November 2023, Anm. d. Red.) angeregten Entwicklungen ist eine noch ferne Perspektive, und sie kann ohne eine einstimmige und wiederholte Zustimmung der Staaten nicht Realität werden.”

Im Mai 2022, nach dem Plädoyer des französischen Präsidenten Macron für eine allgemeine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit, hatten etwa 13 Mitgliedstaaten in einer gemeinsamen Erklärung Widerstand gegen eine derartige Reform sowie auch gegen eine Änderung der Verträge angekündigt. Das veranschaulicht, dass es nicht einfach möglich ist, dass eine solche Änderung in Kraft treten wird.

Fazit: Online heißt es fälschlich, das Europäische Parlament habe das “Vetorecht” der EU-Länder abgeschafft, indem es in mehreren Bereichen das Einstimmigkeitsprinzip durch Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit ersetzt habe. In einer Ende 2023 vom Europäischen Parlament verabschiedeten Entschließung wird allerdings nur vorgeschlagen, die Zahl der Bereiche mit Mehrheitsentscheidungen zu erweitern. Eine solche Resolution ist jedoch nicht bindend. Für eine Änderung des Abstimmungsverfahren bräuchte es eine Änderung der EU-Verträge, die einstimmig von den Mitgliedstaaten beschlossen werden müsste. Das Europäische Parlament kann eine solche Änderung nicht einfach alleine bestimmen.

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Ursprünglich hier veröffentlicht.