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Volkstheorien über info-demokratische Störungen: Eine detaillierte qualitative Zielpublikumsstudie in Belgien und Luxemburg – Zusammenfassung von D3.2.4

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Einleitung

Diese Zusammenfassung umreißt die Hauptaspekte des EDMO BELUX-Forschungsberichtes D3.2.4, der eine Fortsetzung von D3.2.2 (Wiard et al., 2022[1]) ist und die Endergebnisse der qualitativen Zielpublikumsstudie zu Volkstheorien über infodemokratische Störungen in Belgien und Luxemburg präsentiert. Die Studie befasst sich mit dem wichtigen Thema der Wahrnehmung von Desinformationen/Fehlinformationen in demokratischen Gesellschaften, insbesondere im Zusammenhang mit großen Krisen wie dem russisch-ukrainischen Krieg und der COVID-19-Pandemie. Im Gegensatz zu früheren Forschungen, die sich auf die Erzeugung und Verbreitung von „Fake News“ konzentrierten, verlagert diese Studie die Aufmerksamkeit auf deren Wahrnehmung, indem sie untersucht, wie das Zielpublikum in Belgien und Luxemburg die Beziehung zwischen Desinformationen/Fehlinformationen und demokratischen Problemen wahrnimmt, ein Thema, das wir „info-demokratische Störungen“ nennen. Die Studie verwendet das Konzept der  „Volkstheorie“, um das öffentliche Verständnis von Desinformationen/ Fehlinformationen zu verstehen. Sie stützt sich auf eine qualitative Analyse von 28 halbdirekten Interviews mit Nutzern sozialer Medien und identifiziert neun Volkstheorien (und über 20 Verzweigungen), die mit diesem Phänomen zusammenhängen. Die Ergebnisse leisten einen Beitrag zu den akademischen Diskussionen über Desinformationen/ Fehlinformationen, Medienkompetenz, Journalismus und Faktenüberprüfung sowie zu den laufenden Überlegungen von Praktikern, wie Desinformationen/Fehlinformationen wirksam eingedämmt werden können.

Theoretischer Rahmen und Methodik

Diese Studie untersucht das Verständnis von Desinformationen/Fehlinformationen aus der Perspektive des Zielpublikums und verwendet dabei die Konzepte der „Volkstheorien“ und  „info-demokratische Störungen“. Sie geht von der Prämisse aus, dass Desinformationen/Fehlinformationen zwar nicht neu sind, aber durch den Aufstieg sozialer Medien und algorithmischer Einflüsse sowie durch Identitätspolitik und Polarisierung an Bedeutung und Komplexität gewonnen haben. Das Konzept der „Volkstheorien“ ist von zentraler Bedeutung für diese Studie. Es bezieht sich auf die Überzeugungen, Annahmen und Verallgemeinerungen von Laien über ein bestimmtes Phänomen. Im Zusammenhang mit Medien und Kommunikation beeinflussen Volkstheorien die Art und Weise, wie Individuen Medien verstehen und mit ihnen bzw. durch sie interagieren. Volkstheorien basieren auf persönlichen Erfahrungen, Medienberichten und gesellschaftlichen Diskussionen. Diese Studie konzentriert sich insbesondere darauf, wie Volkstheorien das Verständnis des Zielpublikums für die Beziehung zwischen Informationsstörungen und demokratischen Störungen prägen.

Methodisch basiert die Studie auf 28 halbdirekten Interviews mit aktiven Nutzern sozialer Medien in Belgien und Luxemburg, die über 18 Monate in den Jahren 2022 und 2023 durchgeführt wurden. Die Befragten wurden durch ein Schneeballverfahren ausgewählt, bei dem soziale Medien genutzt wurden, um Personen zu erreichen, die eher mit Desinformationen/Fehlinformationen konfrontiert sind. Dank dieser Strategie konnten wir eine Vielzahl von Befragten erreichen, die aufgrund ihres Mediennutzungsverhaltens in fünf Profile eingeteilt werden können: „loyale Konsumenten“, „loyale Enthüller“, „Nachrichtenkäufer“, „rebellische Enthüller“ und „Rebellen“. Insgesamt besteht unsere Stichprobe aus 10 französischsprachigen belgischen Befragten, 9 flämischen belgischen Befragten und 9 luxemburgischen Befragten. Die Analysestrategie war in erster Linie induktiv und umfasste eine thematische Kodierung der Interviews, Analysen von Befragtem zu Befragtem und eine Querschnittsanalyse, um verschiedene Volkstheorien zu unterscheiden und zu identifizieren. Diese Methode ermöglichte ein nuanciertes Verständnis dessen, wie verschiedene Arten von Mediennutzern das Zusammenspiel zwischen Informationsstörungen und demokratischen Prozessen konzeptualisieren. Die Studie unterstreicht, dass Volkstheorien, auch wenn sie nicht wissenschaftlich abgesichert sind, für das Verständnis der Menschen und ihre Interaktion mit Medien und demokratischen Institutionen von Bedeutung sind.

Wichtige Ergebnisse

In unserer Studie haben wir neun volkstümliche Theorien und mehr als 20 Zweige der Volkstheorie ermittelt, die sich auf info-demokratische Störungen beziehen. Tabelle 1 gibt einen zusammenfassenden Überblick über die Ergebnisse.

Tabelle 1. Überblick über die in der Studie ermittelten Volkstheorien über info-demokratische Störungen.

  • (FT1) Traditionelle Medien erledigen die Arbeit
    • (FT1.1) Traditionelle Medien machen kleinere menschliche Fehler
    • (FT1.2.) Politische Ausrichtung ist kein großes Problem
    • (FT1.3) Man muss mit ungefilterten sozialen Medien vorsichtig sein
  • (FT2) Demokratie hat etwas Besseres verdient als schlechten Journalismus
    • (FT2.1) Parteilichkeit in den Nachrichten ist ein großes Problem
    • (FT2.2) Nachrichten werden von wirtschaftlichen Interessen gesteuert
      • (FT2.2.1) Schneller Journalismus
      • (FT2.2.2) Buzz-Journalismus
      • (FT2.2.3) Amateurjournalismus
      • (FT2.2.4) Journalismus ist (in erster Linie) ein Geschäft
    • (FT2.3) Es mangelt an Widersprüchen
    • (FT2.4) Journalismus verstärkt die sozialen Vorurteile
    • (FT2.5.) Boulavardjournalismus
  • (FT3) Politik und Bürger sind entkoppelt
    • (FT3.1) Journalisten sollten politische Nachrichten interessanter gestalten
    • (FT3.2) Politiker sollten sich besser auf ihr Zielpublikum einlassen
  • (FT4) Die öffentliche Debatte ist gestört
  • (FT5) Traditionelle Medien sind Teil/Opfer einer Verschwörung, die von finanziellen (und politischen) Eliten angeführt wird
    • (FT5.1) Finanzielle und politische Eliten manipulieren absichtlich die Medien
      • (FT5.1.1) Folge dem Geld
      • (FT5.1.2) Politische Zensur und Kontrolle
      • (FT5.2) Medien manipulieren ihr Zielpublikum absichtlich
    • (FT5.3) Wir sind superkritische Self-made-Journalisten
  • (FT6) Die Definition der Wahrheit ist politisch
    • (FT6.1) Was wahr ist oder nicht, ist nur eine Frage des eigenen Standpunkts
    • (FT6.2) Wahrheit spielt keine Rolle bei der Überzeugung der Menschen
    • (FT6.3) Meinungsverschiedenheiten und Desinformationen sollten nicht in einem Zusammenhang gesehen werden
  • (FT7) Desinformationen sind eine spezifische Technik der (transnationalen) politischen Kampagnenführung
  • (FT8) Wir haben größere Probleme als Fake News
    • (FT8.1) „Fake News“ hat es schon immer gegeben
    • (FT8.2) Nur Verschwörungstheorien sind Desinformationen
    • (FT8.3) Die rhetorische Inanspruchnahme von „Fake News“
  • (FT9) Info-demokratische Störungen sind ein Problem de Zielpublikums
    • (FT9.1) Die meisten Menschen sind aufgrund allgemeiner soziopsychologischer Faktoren gefährdet.
    • (FT9.2) Einige Menschen sind gefährdeter als andere
    • (FT9.3) Luxemburgs einzigartige Informationskultur
    • (FT9.4) Der Drittpersoneneffekt: Es ist immer die andere Person, die anfällig ist

FT1. Die traditionellen Medien erledigen die Arbeit

Die Volkstheorie „Die traditionellen Medien erledigen die Arbeit“ ist stark ausgeprägt, insbesondere bei den „loyalen Konsumenten“ und den „loyalen Enthüllern“. Die Teilnehmer bringen ihr Vertrauen in die klassischen Medien zum Ausdruck und schreiben die Verbreitung von Desinformationen/Fehlinformationen vor allem den sozialen Medien und „alternativen“ Medienquellen zu. Sie räumen ein, dass nicht alle Veröffentlichungen der traditionellen Medien von gleicher Qualität sind, halten sie aber im Allgemeinen für zuverlässige Informationsquellen. Diese Überzeugung beruht auf der Vorstellung, dass die Fachleute der traditionellen Medien sich von ethischen Standards leiten lassen und die öffentlich-rechtlichen Medien im Vergleich zu den privaten Medien ein höheres Ansehen genießen. Auch die Vorstellung, dass Journalisten von der Leidenschaft für ihren Beruf und nicht von finanziellen Gewinnen angetrieben werden, ist weit verbreitet. Dennoch räumen die Befürworter der Volkstheorie „Die traditionellen Medien machen die Arbeit“ ein, dass Journalisten manchmal „menschliche Fehler“ (FT1.1) unterlaufen, was darauf hindeutet, dass Fehler im Journalismus unvermeidlich sind, aber in der Regel geringfügig sind und die Demokratie nicht wesentlich beeinträchtigen. Diese Fehler werden als Gelegenheit für „Verschwörungstheoretiker“ gesehen, die Medien zu diskreditieren, aber die Befragten glauben an die Fähigkeit der traditionellen Medien, sich selbst zu korrigieren und die Professionalität zu wahren. Die Studie zeigt, dass einige Befragten, die die Theorie „Die traditionallen Medien erledigen die Arbeit“ befürworten, die politische Ausrichtung der traditionellen Medien nicht als großes demokratisches Problem anzusehen (FT1.2). Die Befragten erkennen zwar an, dass die Medien nicht völlig neutral sind, betrachten diese Tendenz jedoch als einen normalen Aspekt einer funktionierenden Demokratie. Sie plädieren dafür, die Nachrichtenquellen zu diversifizieren, um verschiedene Standpunkte zu verstehen, eine Praxis, die als wesentlich für die Bildung fundierter Meinungen angesehen wird. Die Teilnehmer, die diese Volkstheorie vertreten, äußern sich skeptisch gegenüber sozialen Medien und verweisen auf einen Mangel an Filter- und Überprüfungsmechanismen (FT1.3). Sie lehnen die sozialen Medien zwar nicht völlig ab, betonen aber, dass sie bei der Auswahl zuverlässiger Quellen mehr Sorgfalt walten lassen müssen, als dass sie selbst Überprüfungen vornehmen.

FT2. Demokratie hat etwas Besseres verdient als schlechten Journalismus

Diese Volkstheorie steht im Gegensatz zu der positiven Wahrnehmung der traditionellen Medien. Insgesamt wird argumentiert, dass der derzeitige Zustand des Journalismus, insbesondere in den traditionellen Medien mit niedrigem Niveau, den Bedürfnissen einer demokratischen Gesellschaft nicht gerecht wird. Diese Sichtweise wird von der Überzeugung getragen, dass der Journalismus verantwortungsbewusst und genau sein und höhere Standards einhalten sollte, um die Demokratie wirksam zu unterstützen. Diese Volkstheorie umfasst mehrere Zweige. Erstens stellen einige Personen fest, dass Parteilichkeit in den Nachrichten ein großes Problem darstellt (FT2.1). Dieser Gedankengang unterstreicht die Besorgnis über die offenkundige politische Voreingenommenheit von Nachrichtenunternehmen. Die Befragten sind der Meinung, dass diese Voreingenommenheit zu einer Vermischung von Informationen und Meinungen führt und vom Ideal eines „objektiven“ Journalismus abweicht. Derr zweite Zweig „Nachrichten werden von wirtschaftlichen Interessen angetrieben“ (FT2.2) argumentiert, dass der schlechte Zustand, in dem sich der Journalismus heutzutage befindet, auf die Vorherrschaft konkurrierender wirtschaftlicher Interessen zurückzuführen ist, und umfasst mehrere Begründungen, darunter die Schnelllebigkeit des Journalismus, die Suche nach Sensationen („Buzz-Journalismus“), den Dilettantismus der journalistischen Arbeit und die Wahrnehmung des Journalismus als ein Geschäft, bei dem Profit vor Qualität steht. Jede Argumentation problematisiert einen anderen Aspekt des Einflusses wirtschaftlicher Faktoren auf journalistische Inhalte und Qualität. Der dritte Zweig, der in dieser Volkstheorie vorherrscht, insbesondere bei den „Rebellen“ und „rebellischen Enthüllern“, ist der wahrgenommene Mangel an Widersprüchlichkeit (FT2.3) in der Berichterstattung der traditionellen Medien. Dieser Zweig der Volkstheorie behauptet, dass die Mainstream-Medien es versäumen, eine Vielfalt von Perspektiven zu präsentieren, was zu einer Uniformität der Standpunkte führt. Dies steht im Gegensatz zu „Parteilichkeit in den Nachrichten ist ein großes Problem“, bei dem jedes Medienunternehmen seine eigene politische Haltung vertritt. Der Zweig „mangelnder Widerspruch“ gibt Anlass zur Sorge, dass Journalisten ihrer Überwachungsfunktion nicht gerecht werden, was zu einer homogenen Berichterstattung führt, die oft als konform mit politischer Korrektheit oder moralischem Konformismus empfunden werden. Eine vierte große Sorge ist die Rolle des Journalismus bei der Aufrechterhaltung sozialer Vorurteile (FT2.4). Befragte aus verschiedenen Nutzergruppen weisen darauf hin, dass journalistische Praktiken ungewollt zu sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten beitragen können. Besonders deutlich wird dies bei der Berichterstattung über sensible Themen wie rassische oder religiöse Minderheiten, Migranten, Frauenrechte und Inzestthemen. Der letzte Zweig der Volkstheorie des „schlechten Journalismus“ (FT2.5) besagt, dass der wirtschaftliche Druck Journalisten dazu verleitet, fragmentierte Nachrichten zu produzieren, was dazu führt, dass sie nicht in der Lage sind, komplexe Sachverhalte vollständig zu erfassen, d. h. eine Art Boulevardjournalismus. Der Mangel an historischem Gedächtnis bei neueren Journalisten wird als ein Faktor angesehen, der zu diesem Problem beiträgt, da sie oft nicht den notwendigen Kontext liefern, um aktuelle Ereignisse vollständig zu verstehen.

FT3. Politik und Bürger sind entkoppelt

Diese Volkstheorie, die vor allem von „loyalen Verbrauchern“ und „loyalen Enthüllern“ geäußert wird, verweist auf die Kommunikationskluft zwischen der Regierung und den Regierten. Manchmal wird angenommen, dass diese Kluft darauf zurückzuführen ist, dass Journalisten es nicht schaffen, politische Nachrichten attraktiv und verständlich zu gestalten, und manchmal werden Politiker dafür verantwortlich gemacht, dass sie nicht effektiv mit dem Zielpublikum in Kontakt treten, insbesondere auf den Plattformen der sozialen Medien.

FT4. Die öffentliche Debatte in den sozialen Medien ist gestört

Die Befragten, die diese Volkstheorie formulieren, bewerten Online-Debatten als entscheidend für die Demokratie, äußern jedoch Bedenken über die negativen Auswirkungen von Social-Media-Plattformen auf Entscheidungsprozesse. Die Volkstheorie verweist auf die negativen Auswirkungen von Trollen und böswilligen Akteuren, die gefälschte Profile verwenden und eine konstruktive Debatte verhindern. Diese Akteure, die sich oft hinter der Anonymität verstecken, verhindern echte Diskussionen und polarisieren Debatten. Die Volkstheorie kritisiert auch die unzureichende Moderation von Inhalten in den sozialen Medien, die zu falschen Darstellungen und zur Verstärkung von sozialen Vorurteilen und Diskriminierungen beiträgt.

FT5. Traditionelle Medien sind Teil/Opfer einer Verschwörung, die von finanziellen (und politischen) Eliten angeführt wird

Eine beachtliche Anzahl der Befragten, vor allem „rebellische Enthüller“, sehen die traditionellen Medien als Teil oder Opfer einer Verschwörung, die von finanziellen und politischen Eliten angeführt wird. Diese Volkstheorie besagt, dass die traditionellen Medien lediglich die von den mächtigen Eliten absichtlich verbreiteten Narrative wiedergeben und die öffentliche Meinung manipulieren. Sie unterstreicht die Bedeutung eines superkritischen Journalismus, der verborgene Wahrheiten aufdeckt und dem sogenannten „offiziellen Diskurs“ entgegenwirkt. Die Befragten äußern ein Bedürfnis nach Medien, die den Status quo in Frage stellen und alternative Standpunkte präsentieren, wobei sie sich häufig an nicht-traditionelle Medienquellen wenden, um Informationen zu erhalten, die den Mainstream-Erzählungen widersprechen. Ein erster Zweig dieser Volkstheorie (F5.1) argumentiert, dass finanzielle und politische Eliten die Medien absichtlich so manipulieren, dass sie ihren Interessen dienen. Dieser Zweig gliedert sich in zwei Hauptargumente, von denen das eine besagt, dass „höhere wirtschaftliche Interessen“ das Weltgeschehen und die Berichterstattung in den Medien steuern („dem Geld folgen“), und das andere behauptet, dass Politiker die Medien kontrollieren und zensieren. Ein zweiter Zweig (FT5.2) geht davon aus, dass die Medien das Zielpublikum manipulieren, entweder willentlich oder als „Papageien“, die von den Eliten manipuliert werden.

Diese Manipulation dient durch unterschiedliche Mechanismen wie Informationsfilterung, Erzeugung von Angst und Verschärfung sozialer Spaltungen der versteckten Absicht der Elite. Das Ergebnis ist eine Bevölkerung, die in Unwissenheit gehalten oder von den wirklichen Problemen abgelenkt wird, was zu einem geschwächten demokratischen Prozess führt. Schließlich vertreten einige Personen, die diese Volkstheorie teilen, die Auffassung, dass es Aufgabe der Bürger ist, die Arbeit der Journalisten zu übernehmen (FT5.3), da letztere nicht die Art von „Recherche“ oder „Untersuchung“ durchführen, die sie durchführen sollen. Aus dieser Sicht sind es die „Verschwörungstheoretiker“, die tatsächlich eine Überwachungsfunktion ausüben.

FT6. Die Definition der Wahrheit ist politisch

In dieser Volkstheorie stellen die Befragten die Vorstellung einer objektiven Wahrheit in der öffentlichen Debatte in Frage, indem sie darauf hinweisen, dass das, was als wahr oder falsch angesehen wird, weitgehend durch politische Überzeugung und nicht durch sachliche Richtigkeit bestimmt wird. In einem ersten Bereich, der vor allem von „rebellische Enthüller“ und „Rebellen“ (FT6.1) vertreten wird, wird die Wahrheit als relativ und abhängig von der individuellen Perspektive betrachtet. Die Anhänger dieser Ansicht betrachten „alternative Medien“ oft als gleichwertig mit den Mainstream-Quellen und vertreten die Ansicht, dass beide Seiten jedes Argumentes ihre eigenen Wahrheiten haben. Ein zweiter Zweig (FT6.2) befasst sich mit der politischen Natur der Wahrheit. Darin wird argumentiert, dass, auch wenn einige Fakten genauer sein mögen als andere, die öffentliche Wahrnehmung letztlich mehr von politischen Erzählungen als von faktischer Genauigkeit geprägt wird. Dies führt zu einer Skepsis gegenüber Versuchen, eine allgemeingültige Wahrheit zu etablieren, und zu einer Präferenz für eine eher inhaltsorientierte Debatte über faktische Korrektheit. Ein dritter Bereich dieser Volkstheorie (FT6.3) schließlich betont die Berechtigung unterschiedlicher Sichtweisen in öffentlichen Debatten und warnt vor der Vermischung von legitimen Meinungsverschiedenheiten und „Fake News“. Die Anhänger dieses Zweiges argumentieren, dass politische Meinungsverschiedenheiten oft fälschlicherweise als „Fake News“ bezeichnet werden, was einen gesunden demokratischen Diskurs gefährdet. Sie erkennen an, dass es eine faktische Wahrheit gibt, äußern aber ihre Besorgnis über die Politisierung der Faktenprüfung, bei der Meinungen manchmal als Fakten gewertet werden, was zu einem allzu vereinfachten und polarisierenden Verständnis komplexer Themen führt.

FT7. Desinformationen sind eine spezifische Technik der (transnationalen) politischen Kampagnenführung

Diese Volksttheorie betrachtet Desinformationen als ein strategisches Instrument der politischen Kampagnenführung, das sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene eingesetzt wird. Auf nationaler Ebene wird sie als eine Taktik betrachtet, die vor allem von politischen Extremen, insbesondere der extremen Rechten, eingesetzt wird. Auf internationaler Ebene werden Desinformationen als eine weit verbreitete Technik dargestellt, die von Staaten (wie Russland und China) zur politischen Destabilisierung oder Imageverbesserung eingesetzt wird. Aus dieser Perspektive werden Desinformationen auch als ein globalisiertes Geschäft betrachtet, das verschiedenen politischen Akteuren und Ideologien dient.

FT8. Wir haben wichtigere Probleme als „Fake News“

Diese Volkstheorie spielt die Bedeutung von Desinformationen/Fehlinformationen herunter und betrachtet sie entweder als zeitloses Thema (FT8.1), als ein überbetontes Phänomen, das nur „Verschwörungstheoretiker“ betrifft (FT8.2), oder als einen rhetorisch falsch oder zu stark genutzten Begriff (FT8.3).

FT9. Infodemokratische Störungen sind ein Problem des Zielpublikums

Schließlich macht diese Volkstheorie das Zielpublikum und nicht die Medien oder digitalen Plattformen für die Desinformationen bzw. Fehlinformationen verantwortlich. Sie umfasst mehrere Zweige. Erstens betonen einige Befragte die vermeintlich universellen soziopsychologischen Faktoren (FT9.1), die darauf hindeuten, dass jeder aufgrund universeller menschlicher Eigenschaften wie Voreingenommenheit oder mangelnder Medienkompetenz anfällig für Desinformationen/Fehlinformationen ist. Zweitens konzentrieren sich andere Befragte auf die eher soziologischen Faktoren der Desinformationen/Fehlinformationen und geben an, dass bestimmte Gruppen (wie ältere Menschen oder politisch Extreme) anfälliger sind als andere (FT9.2). Drittens beschreiben einige unserer luxemburgischen Befragten die einzigartige Informationskultur ihres Landes und deren Einfluss auf ihre Anfälligkeit für Desinformationen/Fehlinformationen, entweder positiv oder negativ (FT9.3). Schließlich formulieren mehrere Befragte eine Volkstheorie des „Drittpersoneneffekts“ (FT9.4), nach der sie andere als anfälliger für Desinformationen/Fehlinformationen ansehen als sich selbst, was auf eine Wahrnehmung hinweist, dass Desinformationen/Fehlinformationen ein Problem für „andere“ sind.

Schlussfolgerung

Auf der Grundlage des Konzepts der „Volkstheorien“ bietet diese Studie eine erweiterte und eingehende Untersuchung darüber, wie das Zielpublikum in Belgien und Luxemburg das Phänomen der Desinformationen/Fehlinformationen und seine Beziehung zu Politik und Demokratie wahrnimmt. Durch die Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von Sichtweisen und Auffassungen, die die Menschen von Informationen und demokratischen Störungen haben, geht die Studie über die bestehenden Typen von Volkstheorien des Zielpublikums hinaus und trägt so dazu bei, die Untersuchung von Desinformationen/Fehlinformationen an der Schnittstelle von Journalismus- und Zielpublikumsforschung zu unterstützen. Diese Forschung liefert neue Erkenntnisse, die dazu beitragen, über die gängigen Strategien zur Eindämmung von Desinformationen/Fehlinformationen, wie z. B. Faktenchecks und Initiativen zur Förderung der Medienkompetenz, nachzudenken.

Erstens unterstreicht diese Studie die Komplexität des öffentlichen Verständnisses von Desinformationen/Fehlinformationen. Die Vielfalt der in dieser Studie aufgedeckten Volkstheorien unterstreicht die Notwendigkeit, dass Maßnahmen gegen Desinformationen/Fehlinformationen stets flexibel sein müssen und auf die verschiedenen Sichtweisen der Zielgruppen eingehen müssen. Ein Einheitsansatz ist angesichts der vielfältigen und manchmal widersprüchlichen Natur dieser Volkstheorien wahrscheinlich nicht zielführend. Diese Einsicht ist für Praktiker in den Bereichen Journalismus, Faktenüberprüfung und Medienkompetenz von entscheidender Bedeutung, da sie einen nuancierteren und maßgeschneiderten Ansatz für den Umgang mit Fehlinformationen und Desinformationen erfordert.

Zweitens zeigt die Studie eine erhebliche Wissenslücke in der Öffentlichkeit über das Zusammenspiel zwischen Medienorganisationen, politischen Institutionen und wirtschaftlichen Akteuren. Diese Lücke weist auf einen potenziellen Bereich für Medienkompetenzinitiativen hin, die ihren Fokus erweitern und dem Publikum ein umfassenderes Verständnis des Medienökosystems vermitteln könnten.

Drittens unterstreicht die Studie die Herausforderung, einen kritischen Ansatz gegenüber Medien und Nachrichten zu fördern, ohne unbeabsichtigt Misstrauen in professionelle Nachrichtenmedien zu schüren, die für eine gesunde Demokratie unerlässlich sind. Dies würde unter anderem bedeuten, dass man sich ausdrücklich mit komplexen erkenntnistheoretischen Begriffen und Fragen wie „Wissen“, „Objektivität“, „Unparteilichkeit“, „Neutralität“, „Meinung“, „Forschung“ usw. auseinandersetzt. Unsere Analyse legt nahe, dass Ansätze zu Desinformationen/Fehlinformationen, die sich zu sehr auf die Überprüfung und Korrektur von „Fakten“ beschränken, wahrscheinlich als vereinfachend oder sogar manipulativ wahrgenommen werden.

Schließlich deuten die Ergebnisse der Studie darauf hin, dass Desinformationen/Fehlinformationen als Symptome für umfassendere gesellschaftliche Probleme betrachtet werden sollten, insbesondere für die derzeitigen wirtschaftlichen Zusammenhänge und den derzeitigen Zustand der Demokratie. Die meisten Kritiker der Volkstheorien fordern mehr demokratisches Engagement, Rechenschaftspflicht und Transparenz, was auf einen weit verbreiteten Wunsch nach einem partizipativeren und inklusiveren demokratischen Prozess hindeutet, der in den Initiativen zur Eindämmung von Desinformationen/Fehlinformationen besser berücksichtigt werden sollte.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Studie nicht nur unser Verständnis darüber bereichert, wie das Zielpublikum die Begriffe Fehlinformation und Desinformation begreift und damit umgeht, sondern auch wertvolle Erkenntnisse für die zukünftige Forschung und Praxis liefert. Der nuancierte Ansatz der Studie, der sich auf die Vielfalt der Volkstheorien konzentriert, ist ein überzeugendes Argument für individuellere und reaktionsfreudigere Strategien zur Eindämmung von Desinformationen und Fehlinformationen.

 

[1] Wiard, Victor ; Patriarche, Geoffroy ; Dufrasne, Marie ; Rasquinet, Olivier. Folk theories of info-democratic disorders: preliminary results from an ongoing qualitative audience study in Belgium and Luxembourg. (2022) 57 + v pages. http://hdl.handle.net/2078.3/266130

 

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Das Zentrum führt ein erfahrenes und umfangreiches Netzwerk von Faktenprüfern, Medien, Desinformationsanalysten, Organisationen für Medienkompetenz und Wissenschaftlern zusammen, um aufkommende schädliche Desinformationskampagnen aufzuspüren, zu analysieren und aufzudecken. Durch Schnellwarnungen im Netzwerk erreichen Faktenüberprüfungen und investigative Berichte die ersten Ansprechpartner für Desinformation (Medien, Zivilgesellschaft, Regierung), um die Auswirkungen von Desinformationskampagnen zu reduzieren. Darüber hinaus schärft EDMO BELUX durch Medienkompetenzkampagnen das Bewusstsein und stärkt die Bereitschaft von Bürgern und Medien, Desinformationen zu bekämpfen. Außerdem bindet das Zentrum seine Desinformationsüberwachung, -analyse und -sensibilisierung in einen multidisziplinären Forschungsrahmen über die Auswirkungen von Desinformationen und Plattformreaktionen auf demokratische Prozesse ein.